Die zehnte Muse (Alexander Pechmann)

Schließe deine Augen und sag’ mir was du siehst: Trugbild oder Spiegelbild? Öffne deine Augen und sag’ mir was du siehst: Wunsch oder Wahrheit?
Nimm Pinsel und Farbe zur Hand und erzähl mir mit deinen Händen und deinem Blick davon, wie Vergangenheit und Gegenwart sich überlagern. Davon, wie die Zeit uns narrt …

Die zehnte Muse von Alexander Pechmann

Wecken um fünf, ins Bett um neun, jegliche Freizeit unter Aufsicht. Ein Gefängnis, kein Internatsleben war das. Da waren sich die Jungs einig. Algernon war jetzt ein Teil dieser bestens geölten Disziplinmaschine und er vermisste sein Freiheit schon jetzt, am ersten Tag seines Hierseins und noch vor dem Abendessen. Der Kalender schreibt das Jahr 1885 und wir befinden uns in Königsfeld, im Herzen des Schwarzwaldes, in einem Internat der Herrnhuter Brüdergemeinde. Einmal zu oft war Algernon des Nächtens daheim via Leiter und Fenster aus dem Bett gestiegen, jetzt war er hier gelandet, um das zu verlernen. Dabei hatte der Vater, der ihn lediglich mit Zurechtweisung strafte, sogar versucht ihn durch Theosophie und mit Geschichten von Okkultismus zu erschrecken, er hatte ihm aber mit den Büchern über die Nephilim am Ende nur spannende Anreize gesetzt. Wie konnte man Nachts nur schlafen, wenn vor der Tür eine komplette, eine unbekannte Welt wartete?

“Nacht und Sterne und Bäume und Wind und Regen bildeten die Welt, in der ich leben wollte. Sie waren lebendig, vertraut, verwandt und berührten mich tief in meiner Seele, während meine schlafenden Eltern und Geschwister nichts mit mir und meiner Wirklichkeit zu tun hatten.”

Textzitat Alexander Pechmann Die zehnte Muse

Alexander Pechmann, geboren 1968 in Wien, Autor, Herausgeber und Übersetzer, erwählt in dieser Geschichte einen Kollegen, den verstorbenen britischen Esoteriker, Theosoph und Autor zahlreicher unheimlicher Kurzgeschichten, für die auch H.P. Lovecraft schwärmte, Algernon Henry Blackwood (*1869, +1951), als zentrale Figur. Von Blackwood, der viel gereist ist und behauptete, höchstselbst Geistererscheinungen erlebt zu haben, der ein landwirtschaftliches Studium mangels Interesse abbrach und laut Wikipedia sein Publikum zunächst als Radiomoderator und Erzähler phantastischer Geschichten eroberte, hatte ich bis dato weder gehört noch gelesen, und genau dafür mag ich Pechmann. Er schürft tief und findet dabei stets einen Schatz. Sein neuester Roman liegt schon auf meinem Stapel bereit und ich freue mich nach dieser Lektüre noch mehr darauf, zögere die Vorfreude, nach dem Genuss dieser Backlist-Perle noch etwas hinaus. Schon seine Sieben Lichter (2017) und auch Die Nebelkrähe (2019), beide aus Pechmanns Feder, hatten mich komplett abholen können. Beiträge dazu findet wer mag nach einem Klick auf die nachfolgend eingebetteten Cover:

 

 

 

 

 

 

 

Pechmann der gerne vergessene Geschichten, mit realem Kern sammelt, um sie neu zu erzählen, tut dies hier in bester Manier eines Schauerromans, garniert mit einer ordentlichen Portion an Elementen aus der Romantik, sanft verwoben mit der Sagen- und Mythenwelt des Schwarzwaldes. Seine kleine feine Novelle hat mich im positivsten aller Sinne an die Gespenstergeschichten von Susan Hill erinnert die ich so mag. Dieser leichte Grusel, der geheimnisvolle, eher düstere Grundton, die Zweifel, die einmal gesät, rasch keimen.

Für die Figur des Paul Severin hat Pechmann bei dem Symbolisten und Expressionisten Karl Hofer (*1878, +1955) Maß genommen, auch er wuchs in einem Waisenhaus auf, arbeitete als Buchhändler, studierte Malerei an der Kunstakademie Karlsruhe. Was ihn von Severin unterscheidet, ist dessen Herkunft als Teil des fahrenden Volkes, die ihm letztlich eine große Einsamkeit beschert. Dramaturgisch ein weiterer cleverer Schachzug des Autors, der für Vielschichtigkeit im Plot sorgt. Algernon Blackwood hingegen hat in einer seiner Geschichtensammlungen (John Silence), in der Kurzgeschichte “Secret Worship“, über die im Roman vorkommende Knabenanstalt in Königsfeld im Schwarzwald geschrieben, die er zwischen Frühjahr 1885 und Herbst 1886 selbst besucht hat. Dieser Geschichte entnahm Pechmann die Namen einiger seiner Protagonisten. So fügen sich zwei reale Vorbilder passgenau in einen fiktiven Rahmen, mit einem ausserordentlich hohen Grad an Authentizität.

Kann sie uns narren, die Zeit? Das fragt in Die zehnte Muse ein Fremder im Zug sein hinter einer Zeitung verstecktes Gegenüber. Beide kommen ins Gespräch und mich beschleicht alsbald, wie den Herrn hinter den Zeitungsseiten, es handelt sich um den Maler und Gnostiker Paul Severin, das Gefühl, diese Begegnung hat nicht der Zufall arrangiert, sondern vielleicht doch er, der Fahrgast dem wir diese philosophische Gesprächseröffnung verdanken und der sich nun als Algernon Blackwood, seines Zeichens Abenteuerer und Journalist, vorstellt.

Im Juli 1905 lässt der Autor diese beiden Männer in einem Zugabteil aufeinander treffen, die sich nicht kennen und die mehr verbindet als trennt. Einen gemeinsamen Bekannten habe beide, wie sich herausstellt, den sie aber aus den Augen verloren haben, als sei er spurlos verschwunden. Ein weiteres Bindeglied zwischen ihnen scheint ein Gemälde aus dem Jahr 1904 zu sein, welches ein Mädchen, eingebettet in eine Fantasiewelt zeigt, das beide Herren persönlich kennengelernt haben wollen. Talitha, ist ihr Vorname, was übersetzt “Stern” meint. Der Eine, Blackwood, begegnete ihr 1885, also vor rund zwanzig Jahren und der Andere, Severin, vor etwa einem Jahr und in dieser Zeit war die junge Frau offenbar um keinen einzigen Tag gealtert …

Unehrlich. Ausgestoßen. Ein Huschen, ein Schatten, eine Begegnung in der Nacht. Was sich da spiegelt im Wasser ist nicht das eigene Gesicht. Auf der Oberfläche des Donisweihers. Dieser geheimnisvolle Ort unweit des Ortes Königsfeld scheint der Schlüssel und das Mädchen, das nicht altert seine Hüterin zu sein. Oder ist sie doch ein Geist? Oder gar ein Dämon? Ein Wesen, welches mit der Zeit zu spielen gelernt hat?

Blackwood und Severin verbünden sich, sie wollen dem Rätsel um die junge Frau auf den Grund gehen, beide brechen auf in den Wald, dorthin wo er immer dunkler und dichter wird, bis er sich plötzlich lichtet, gelangen zu dem Ort, der sie nie mehr hat Ruhe finden lassen, nachdem sie dort auf Talitha gestossen waren, sie nennen sie, die zehnte Muse …

Diejenigen, die glauben alles zu wissen, werden hier auf die Probe gestellt. Die Zeit verschwimmt, schwindet und dehnt sich, eine ganze Zeitspanne scheint zu schrumpfen. Eine rein mündlich überlieferte Sprache gibt Rätsel auf. Die Seele der Dinge verbietet uns nur zu sehen was wir sehen wollen. In den Dialogen zwischen Blackwood und Severin, aber auch in den Rückblenden auf beider Vergangenheit gibt es einiges zu entdecken. Wie ein Eichhörnchen seine Nüsse, sammele ich hier Hinweise, trage sie zusammen um mir ein Bild zu machen, verlaufe mich dank guter Wegweiser nie in diesem Labyrinth des Halbvergessenen.

Perfekt ist sie gelungen, die Balance zwischen spooky story und elegant choreografiertem Schreiben. Bis zu den letzten Seiten hält mich Pechmann hin, lässt mich Fährten folgen, die mich schon nicken lassen, nur um dann doch in die Irre zu gehen …

Weiterführende Quellenangaben im Anhang zeigen wie akribisch Pechmann recherchiert hat. Sein Ton wirkt anmutig gestrig und einige der Denkanstöße mit denen er seine Figuren beschäftigt, den Philosphen Irenäus zitierend, der die Zeit als eine Karrikatur der Ewigkeit, als schlechte Imitation der Unendlichkeit verstanden hat, nehme ich mir mit. Muss man mehr sagen um diese wundervolle Erzählung auf den sprichwörtlichen Punkt zu bringen? Ich meine nein, und nur selbst lesen bietet noch mehr Genuß. Viel Spaß dabei, ich wünsche von Herzen eine geheimnisvolle Zeit!

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