Die Paradiese von gestern (Mario Schneider)

Was mir als erstes auffiel, war diese endlose Weite, in der sich die Rebstöcke aneinanderreihten, die im zeitigen Frühjahr noch auf ihre Knospen warteten. Von unseren Weinanbaugebieten an Nahe, Mosel und Rhein, bin ich anderes gewohnt. Steile Hänge hat es dort, die zu bewirtschaften fast unmöglich scheint. Reihe um Reihe, schier endlos, verlor mein Blick im Süden Frankreichs die Reben am Horizont. Wie mag es hier wohl im Herbst aussehen? Wenn sich das Laub des Bordeaux’ färbt? Das muss ein wahres Feuerwerk sein und ich beschloß dann noch einmal herzukommen. Wir liefen auf das Haus zu, das am Ende der langen Reihen stand und wie ein Wächter auf die Weinstöcke herabschaute, ein schmiedeeisernes Tor ließ uns ein und ich war gespannt, freute mich darauf ein Glas in den Händen zu drehen, einen guten Tropfen darin. Blutrot hatte er die Sonne einfangen …

Die Paradiese von gestern von Mario Schneider

Sommer 1960, Biarritz. Comtesse Charlotte Louise de Violet-Hascardin macht Ferien. Ihr Wein und ihr Chateau, das jetzt auch ein Hotelbetrieb war, zählten zu den besten Frankreichs, was man von ihrer Ehe nicht behaupten konnte. Sie hatte die Einsamkeit und einen dreijährigen Sohn, und ihr Mann Henri seine Geliebte. Ein Seitensprung lag in der Luft. Ein nicht standesgemäßer noch dazu. Es knisterte. 15 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es darf aber nicht sein, was nicht sein darf. Was wenn es mehr als eine Verliebtheit war? Dann vergeht sie nicht. Nicht einfach so und auch nicht wenn man sie sich verbietet. Einen nahezu unmöglichen Handel eingeht. Charlotte wußte das, trotzdem tat sie es. Verbot sich und ihm Gefühle und mehr als einen professionellen Umgang miteinander und so nahmen sie einander ein Versprechen ab …

Sommer 1990. Ella und René sind endlich in Frankreich, von diesem Land hatten sie hinter dem Vorhang der DDR so lange geträumt, in Romanen von Balzac davon gelesen. Rund ein halbes Jahr ist ihre Beziehung jetzt alt, ihre Verliebtheit noch frisch und eine Nacht in einem alten Chateau, dem einmal vier Sterne zu gestanden hatten, konnten sie mit Ihrem Budget eigentlich nicht mehr vereinbaren, sind aber trotzdem geblieben. In diesen Ferien hatten sie bislang jeden Tag ihre Unterkunft auf sich zukommen lassen und waren zu Beginn dieser stockfinsteren Nacht, am Ende einer staubigen und holprigen Landstraße hier gelandet, im Château Violet, unweit des Atlantiks.

Zwei Studenten für Schauspiel und Komposition aus Ostdeutschland, sollten so unfreiwillig zu Comtess Charlottes letzten Gästen werden, das hatte Madame entschieden und ein letztes Dinner brachte sie nun gemeinsam an einen Tisch. Die Geschichte des Hauses nahm zwischen ihnen Platz und stellenweise Sprachlosigkeit. Besonders als Alain, der Sohn des Hauses, verspätet dazu kam und unversehens mit der Mutter einen Streit vom Zaun brach. Pleite. Ein Wort wie ein Peitschenhieb. Das Gefühl einer sicher geglaubten Existenz wich einer Angst, die schon immer da gewesen war. Stolz ist keine Währung aber Adel verpflichtet. Die mittlerweile 70 Jährige Charlotte bis heute. Der Duft von Zimt, Vanille und Blätterteig. Undenkbar Haus und Gut zu verlieren, mit all seinen Gerüchen und Geräuschen, die zu Alains Kindheit gehörten …

Die beiden jungen Leute werden Zeugen dieser unschönen Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn, und ahnen nicht, als das Abendessen noch vor dem Dessert endete und sie sich grandios unwohl fühlten, dass sie durch ihre bloße Anwesenheit vielleicht sogar Schlimmeres verhindert hatten. Worte können Waffen sein, die Gegenwart war keine Rüstung …

Mario Schneider, geboren am 05. Mai 1970 in Neindorf, Oschersleben, entwirft zwei Handlungsstränge, verankert sie in unterschiedlichen Jahrzehnten und wir begegnen der Zeit jeweils am gleichen Ort, in einem alten Chateau im Südwesten Frankreichs. Der Filmproduzent, Fotograf und Autor Schneider fängt dabei besonders diesen Schauplatz im Bordelais ausgesprochen stimmungsvoll und bildhaft ein. Die Landschaft und seine aus der Zeit gefallene Gräfin versprühen den Charme eines alten französischen Films. Mein Kopfkino ist in Sepia getaucht, allerdings vergebe ich auch Punktabzüge und zwar für eine nach meinem Geschmack doch sehr schwärmerische Romantik, die sein ostdeutsches Liebespaar umgibt, welches sich auf der gegenwärtigen Zeitschiene tummelt.

Das Angst davor hat, dass die Zeit vergeht und die Liebe mit ihr, dass sie sich verändert, dass nichts bleibt wie es ist, besonders dann nicht, wenn es gerade perfekt ist. Ella schwankt ständig zwischen Glück und Melancholie, und René versucht sie dabei in der Balance zu halten. Die Szenen zwischen den beiden haben mich ganz schön getriezt und Ella, die Schauspielerin, die sich offenbar ständig auf der Bühne glaubt, mit ihrem Weltschmerz, ihren Stimmungsschwankungen, ihren ach so hohen Erwartungen, kreiste mir zu sehr um ihren eigenen Bauchnabel, als dass ich sie als Figur hätte mögen können. Madame de Violet hingegen mochte ich auf Anhieb. Die sonderbare Comtess, die umschlungen ist von Konventionen wie von schweren Ketten, die Schloss und Weinberge, beides seit 300 Jahren im Besitz ihrer Familie, mittlerweile sich selbst überlassen hat und sich jedem Kaufangebot standhaft verweigert. Keiner versteht warum.

Ihr Schloss zu durchstreifen machte mir ebenfalls Laune, zwischen Ritterüstungen entdeckte ich ein Jagdzimmer nebst ausgestopftem Krokodil unter der Decke. Fresken, Stuck und schwere Vorhänge umrahmen abgedeckte Möbel auf denen das Licht des Sommers tanzt. Es riecht nach Staub und Papier in der Bibliothek und immer wieder hat es Spiegel, durch die man meint hindurchgehen zu können. Hier zu sein heißt die Vergangenheit zu treffen. Die eigene. Vielleicht. Oder die der anderen. Wie z.B. bei Ausflügen in die Familienchronik der Madame, die einem neunhundert Jahre alten französischen Adelsgeschlecht angehört, welches am eigenen Leib nicht nur die Guillotine erfahren hat.

Panzer rumpeln durch diese Erinnerungen, die kostbare Rebstöcke platt walzen. Ein Vater wird gedemütigt, dessen Stolz die Familie um Hab und Gut bringt. Frostnächte, die den mühsam großgezogenen Ertrag einer ersten Traubenernte zunichte machen. Einfach so.

Identitätskrisen und Selbstfindung mischen sich mit der Sehnsucht nach Veränderung und dem Verbleib im Gewohnten.

Ein Ausflug nach Lourdes, sich einreihen in einen schier endlosen Pilgerstrom, bei sengender Sonne, nicht denken nur fühlen. Ein Aston Martin, Partys und Paris. Bühne frei für Prince (ja, genau für den!).

Über Geld spricht man nicht, Mann hat es. Gemacht. Dann gehört man dazu. Zu seinen Kreisen. Alain, der Sohn der Gräfin, Wohnungsmakler der High Society in Paris, geht mit ihr um.Täglich. Mit den Reichen und ganz schön Reichen. Mit Designern, Journalisten, Politikern und Künstlern. René ist mit ihm unterwegs. Lässt sich vorführen und verführen. Von materiellen Reizen. Mit ihnen geizt sein Gastgeber fürwahr nicht, als müsse er sich ihm beweisen.

Unser Paar drückt die Pausetaste, bis dahin und ab ab da, hat es hat es so einige Längen, meinem Empfinden nach hätte der Geschichte ein mutiger “directors cut” gut gestanden. Ihren Charme betont. Ich erwische mich auch beim Augenrollen, Schneider greift im Ton zu reichlich Pathos, schrammt mit den Szenen seines Liebespaares den Kitsch und ich mag das in dieser Überdosierung, und auch im Gesamtkontext nicht als notwendiges Stilmittel empfinden. 

Der preisgekrönte Dokumentarfilmer und Komponist Mario Schneider, liest die Hörbuchfassung seines 552 seitigen Debütromans gemeinsam mit der wunderbaren Gudrun Landgrebe ungekürzt und in rund 19,5 Stunden ein. Mit den Klängen eines Klaviers werde ich abgeholt und schon bei diesen ersten Tönen läuft mein innerer Film los. Kurze Klavierstücke werden mich bei den Kapitelübergängen die gesamte Geschichte hindurch begleiten und Landgrebe liest mit der ihr eigenen Eleganz, fein akzentuiert und sanft, singt und summt auf französisch Kinderlieder, bringt so ihre ganz eigenen Farben in den Text ein. Einzig mit dem vorlesenden Autor habe ich gehadert, er fällt doch sehr ab im direkten Vergleich mit Frau Landgrebe, was schade ist, finde ich, hat er doch recht viele Leseanteile.

Wie verbleibe ich jetzt mit dem Gehörten? Wer einen unaufgeregten Ton, einen Hauch Nostalgie, sehr schöne Szenen rund ums Kochen und der Liebe wegen lesen mag, wird sich gerne in Mario Schneiders Ausführlichkeit ergeben, der auf Bildhaftigkeit setzt, gekonnt formuliert und ein Frankreich beschwört, das vielleicht einmal paradiesisch gewesen ist. Wer mag das schon bewerten? Das Ende muss man mögen, ich hätte ein anderes gewählt.

Mit einem Gläschen Bordeaux auf der Terasse läßt sich in dieser Geschichte, in der schon länger, und in der erst kürzlich vergangenen Vergangenheit stöbern, oder ihr lauschen. Die ist wirklich anschaulich getroffen, dabei kann man, so wie ich, jugendlicher Schwermut wegen, die Augenbrauen hochziehen oder von der einen großen Liebe träumen … Santé!

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