Die Inkommen-Surablen (Raphaela Edelbauer)

Der australische Historiker Christopher Clarke veröffentlichte 2012 ein Sachbuch unter dem Titel Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Darin beschäftigt sich Clarke mit den Ereignissen, die zur Krise des Juli 1914 und in der Verlängerung zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten. Clarke benennt keine Schuldigen, er vertritt die Meinung der Kriegsausbruch sei eine “Tragödie, kein Verbrechen” gewesen, die Folge einer Kette von Entscheidungen. Er spricht von Akteuren, die schlafwandelnd auf einem Seil über einem Abgrund balancierten, solange bis sie den Halt verloren. In einem Artikel bin ich auf diese Querverbindung zu Raphaela Edelbauers aktuellem Roman gestoßen und das Wort <Schlafwandler> trifft für mich den Nagel auf den sprichwörtlichen Kopf, betrachte ich ihre Figuren. Man schreibt Schlafwandelnden eine Sicherheit zu, die uns im Wachzustand verwehrt ist, besonders wenn es um die Balance am Abgrund geht. So manche(n) soll man schon auf einem Dachfirst entdeckt haben.

Edelbauer greift in ihrer aktuellen Geschichte den Gedanken einer Welt am Abgrund und einen Zeitpunkt auf, diese Nacht im Juli, an deren Ende ein Kriegsausbruch stand. Sie entführt uns zu Halbweltgestalten, Prostituierten, jungen Witwen von morgen, einer verbohrten Militärschickeria und mathematischen Ungleichen nach 1914, wo drei Zufallsbekannte wie schlafwandelnd durch diese Nacht taumeln …

Der siebzehnjährige Hans, die treue Seele, von dem alle denken, auch er müsse sich doch freiwillig melden um sein Tirol zu verteidigen, Klara, Feministin und Sozialistin und Adam, Sohn aus reichem Haus. 

Die Inkommensurablen von Raphaela Edelbauer

Hans, der Pferdeknecht aus Tirol, unehelich, Vater tot, ist allein in der großen Stadt. Wien. Die ihm vorgekommen sein muss wie ein anderer Planet. Er ist auf dem Weg. In seiner Tasche ein Zeitungsinserat, zu einer namhaften Psychoanalytikerin. Weil er hat eine Gabe, er kann andere seine Gedanken aussprechen lassen und mehr noch, was in ihm vorgeht, passiert auch, was ihn gehörig durcheinander bringt. Auf den Stiegen zu eben dieser Therapeutin trifft er auf Klara. Die Stadt ist in Aufruhr. Die Generalmobilmachung Österreichs steht bevor.

Klara und die irrationalen Zahlen. Sie studiert Mathematik, steht kurz vor dem Abschluss, und als sie Hans begegnet, findet der das unfassbar kompliziert, womit sie sich da beschäftigt. Mit der Philosophie der Inkommensurablen, wie sie ihm erklärt. 

Zu Hans und Klara stößt der durchsichtige Adam. Reich und Musiker, den sie übermorgen einziehen werden. Sagt er. In Belgrad soll er die Ehre des Vaterlandes verteidigen und die Tradition der Familie, die zahlreiche Offiziere hervorgebracht hat. Seine Hände mit der Zigarette zittern so stark als er davon erzählt, dass er die Asche gar nicht mehr abklopfen braucht. Er bietet Hans, der noch Obdach ist in Wien, einen Platz zum Schlafen an, zum Schlafen werden die drei aber gar nicht kommen …

Traumdatenbanken, Traumdeutung und Analyse. Menschen auf der ganzen Welt Träumen das gleiche ohne sich zu kennen und Klara ist die Schlüsselfigur? Wie unheimlich. Was sie vermag und warum sie für Helene, Therapeutin und Psychoanalytikerin, so von Interesse ist, hält Edelbauer zurück. Noch. Rund zweihundertfünfzig Analytiker hat Helene mittlerweile vernetzt und Klara ist ihre Traumspringerin?! 

Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien, studierte Sprachkunst und in der Presse wird sie, was ihr erzählerisches Talent anbelangt, mit Joyce Carol Oates auf eine Stufe gestellt. Mit “Das flüssige Land” schrieb sie sich 2019 auf die Shortlist des Deutschen und des Östereichischen Buchpreises, ihr DAVE gewann dann 2021 den Östereichischen Buchpreis. In einem Interview mit Denis Scheck, nach dem Erscheinen von DAVE befragt, was sie denn als nächstes Thema schreibend angehen wolle, gab sie an: Mathematik. Dieser Idee ist wohl ihr eher sperrig anmutender Titel entlehnt, bei dem man zweimal hinlesen und den ich, zugegeben, erst einmal googeln muss. Als inkommensurabel bezeichnet man Maße die keinen rationalen Bezug zueinander haben, die nicht zusammenpassen. Aha, ich bin gespannt, wie sich das hier ausgehen wird.

Hans, vorgestern noch auf der Weide, zwischen treuen Pferden, hat heute den Krieg vor Augen.
Die Extrablätter überschlagen sich. Beinahe freudig rücken junge Männer ein, für den Familienstolz und die Ehre. 

Adam, lebt für die Musik, der Auforderung des Vaters, der die Kriegsheldentradition der Familie hochhält folgt er dennoch. Ein Streit während einer Orchesterprobe eskaliert. Adam gerät außer sich. Etwas ist in ihn gefahren, sagt Hans.

Klara, die Analystische, reagiert derweil entspannt und wundert sich nicht im Mindesten darüber, wie der Streit entstand und es Adam gelungen ist, die Familienschuld seines Kontrahenten aufzudecken. Er konnte eben die Vergangenheit anderer sehen, das war seine Gabe. Deshalb war er Helenes Patient.

Ja, diesmal hat Rafaela Edelbauer einen historischen Roman geschrieben. Aber keinen klassischen, sie interpretiert ihn modern, von der Sprache her manchmal forsch, schafft einen Kontext, in dem sie, wie man es von ihr gewohnt ist, im Grunde konträre Denkansätze gegeneinander stellt. Ich mochte diesen Widerspruch, ihn und auch ihre Vorgänger-Romane. Denn sprachlich wie inhaltlich kommt Edelbauer auf Ideen, die sonst keine(r) hat. Davor ziehe ich den Hut. Alles wirkt bei ihr neu und noch nicht erzählt. Man wird als Leser:in an die Grenzen des Möglichen geführt und darüber hinaus. Herausgefordert und auch mit Wissen gefüttert. Auf Trapp gehalten und auf die Folter gespannt. Was da wohl um die nächste Satzbiege noch wartet? Man will es herausfinden.

Die Hörbuch-Fassung der Inkommensurablen liest Cornelius Obonya, österreichischer Bühnen- und Film-Schauspieler. Er gibt als Hörbuchsprecher alles. Habe ich mir anfangs mit seiner Art zu lesen noch schwer getan, nötigte mir, wie er mit den slawischen und österreichischen Dialekten jongliert, dann bald schon gehörigen Respekt ab. In der Folge war es sogar die Lebendigkeit seines Vortrags, die mich mit am Text gehalten hat.

An einem Text der detailreich ist, manchmal rückwärtsgewandt und der aufgrund des kurzen Zeitraumes den er abbildet, wenig Vorwärtsdrift hat. Dafür Bilder im Drogenrausch. Das Fabulieren eines Mediums, das vor staunendem Publikum kryptische Thesen von sich gibt. 

Dann wieder geht es um Gauner und Suffragetten. Klara scheint mir eine zu sein. Eine Frau, die weiß was sie will. Eine, die ihre Meinung vertritt, auch öffentlich. Das hat sie einige Stunden zuvor noch getan. An der Tafel von Adams Eltern und wurde hinausgeworfen. So unverschämt. Jetzt tut sie es wieder, auf offener Straße, wird dafür attakiert.

Schlaflos in Wien. Sie sind auf der Suche. Auf der Suche nach dem Ort eines gemeinsamen Traumes. Unheimlich klingt das, das muss es für diejenigen, die gefangen sind in diesen nächtlichen Traumschleifen auch sein. Besonders dann, wenn sich aus den Träumen Ereignisse ins Wache verschieben. Doch wie kann das sein?

Hans erlebt einen Tag und eine Nacht wie im Taumel. Ich mit ihm. In gezielt eingestreuten Rückblicken erfahre ich wie und wo er aufgewachsen ist. Nach dem Tod des Vaters. Wie sie ihm mitgespielt haben, wie er doch noch so etwas wie Bildung erfahren durfte. Dann der Abstieg in die Wiener Unterwelt. Wien und diese Nacht sind wie Albträumen gemacht. 

Die Welt hatte eine neue Ordnung erhalten, mit der Ausrufung des Krieges, schreibt Edelbauer, jeder Mensch einen neuen Wert und ich bin wieder einmal schwerst beeindruckt davon, wie man sich so in die Tiefe eines Stoffes hineinarbeiten kann. Wer sich Edelbauer, so wie ich, bewußt aussucht weiß ihre Texte sind nicht so eben mal nebenbei zu konsumieren. Viel zu viel steckt da drin. Diesmal sprüht eine Fabulierleidenschaft über mathematische Details im kantschen Kontext aus den Seiten, da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich, ich verstand da zugegeben, teilweise nur Bahnhof und Abfahrt, lernte aber auch eine Menge. Mal sehen was wir von dieser Ausnahmeautorin noch erwarten dürfen. Ich für meinen Teil erwarte es mit Spannung. Alle diejenigen von Euch, die Raphaela Edelbauer noch nicht kennen, finden nach Klick auf die nachfolgend angefügten Cover meine Besprechungen zu ihren Vorgänger Romanen und ich wünsche viel Freude beim Entdecken ihres Ideenreichtums:

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