Treacle Walker – Der Wanderheiler (Alan Garner)

Seit Tolkien kann man die klassische High-Fantasy nicht mehr neu erfinden. Sein Weltenbau im Hobbit und im Herrn der Ringe, die Gestalten die seine Geschichten bevölkern, haben Meilensteine gesetzt.

Wer sich mit diesem Autor messen will, hat es meist schwer bei den Fans. Bei mir auch. Ehrlich gesagt.

Potz Blitz, Donner und Doria! Diesen Ausruf tätigt eine der Hauptfiguren, der Geschichte, die ich heute vorstellen möchte, gleich auf den ersten Seiten und auch mir sind vor Überraschung die Augenbrauen hochgeschnellt, bei meinem ersten Zusammentreffen mit diesem kurios anmutenden Herrn:

Treacle Walker – Der Wanderheiler von Alan Garner

Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Wer war dieser Mann, der mit einem alten Karren und einem weißen Pony Lumpen und Knochen einsammelt und im Tausch dafür Geschirr und einen Reibstein anbietet? Der jetzt laut rufend vor seiner Tür anhielt. Ein Stück nur und einen Scheuerstein, eine Tasse oder einen Tiegel, einen Teller, durfte man sich im Tausch aus seiner bis zum Rand gefüllten Truhe aussuchen. Joseph machte das. Ging mit seinem alten löchrigen Pyjama und einem Knochen, den er auf einem Feld gefunden hatte, zu dem merkwürdigen Alten. Seine Wahl fiel auf einen eher unansehnlichen  Pot, er erntete Spott dafür, drehte ihn prüfend in den Händen und entdeckte, in sauberen Buchstaben seinen Namen auf dem Deckel?! Wie konnte das gehen? Potz Blitz, Donner und Doria! Das würde er gerne wissen und so ludt er den verwahrlost wirkenden Mann, der zugegeben sehr streng roch, in sein kleines Haus ein. Nicht ahnend, dass das da eben erst der Anfang aller Merkwürdigkeiten sein würde …

“… die Nacht war im Haus, ein Laken Düsternis flatterte von Wand zu Wand, veränderte die Form, wirbelte, wallte, fiel zu Boden und floss über die Fliesen, dann hoch zu den Balken, den Sparren und Streben, hing dort, sank herab, krümmte sich,  kreischte und bäumte sich vor der Kaminöffnung auf, drang aber nicht hinein.”

Textzitat Alan Garner Treacle Walker

Nein, man kann nicht in seinen Lieblings-Comic hineingeraten, oder die Figuren aus ihm heraus. Man kann auch nicht mit jedem Auge das man hatte etwas anderes sehen?! Was war nur los mit ihm? Joe lag auf seiner Matratze, schaute auf sein Hemd. Da war Sand, von dem Felsen im Comic und nein, er träumte nicht, er war wach!

Seltsame Gestalten und unerwartete Begegnungen. Ein freundliches Wesen im Sumpf, Gauner aus Papier. Ein Lumpensammler unter dem Birnbaum vorm Haus. Mehr Fragen als Antworten. Wahrheit oder Traum? Vom Oben im Unten und umgekehrt. Das alles hat er sich ganz famos ausgedacht:

Alan Garner, geboren am 17. Oktober 1934 in Congleton, wuchs in Alderley bei Manchester auf, studierte in Oxford. 2001 ernannte man ihn zum Officer of the Britisch Empire, 2012 wurde er ausgezeichnet mit dem World Fantasy Award für sein Lebenswerk. Zahlreiche andere Preise des Genres hat er ebenfalls abgeräumt. Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller Englands und ich schäme mich tatsächlich ein bisschen, noch dazu als eingefleischter Fan von Tolkien, dass ich ihn nicht kannte. Gleichzeitig freue ich mich, dass es heute noch möglich ist, eine solche Entdeckung zu machen. Dafür danke ich dem Verlag ausdrücklich, der seit Jahren für die Hobbits in Deutschland eine Heimat ist, den Fantasy Spezialisten von Hobbit Press, Klett-Cotta. Hättet Ihr mich nicht mit dem Angebot eines Besprechungsexemplars auf diesen Titel aufmerksam gemacht, ich hätte ihn verpasst und was wäre mir da entgangen? Nicht weniger als eine Perle unter den Erzählungen dieses Genres und einen Schriftsteller, der mich jetzt am Haken hat.

Märchenhaft spannend, schafft der auf nur 160 Seiten, wofür andere Schreibende 600 Seiten und mehr brauchen. Sein Füller muss ein Zauberstab sein. Wie sonst kann es ihm gelingen, seine Sätze so magisch aufzuladen? So zu verdichten?

Es geht um Mythen, um eine ganz besondere Freundschaft. Ich weiß, viele von euch lesen keine Fantasy-Geschichten, das aus Überzeugung, mir aber sind sie mehr als moderne Märchen oder Alltagsflucht. Wer zwischen ihren Zeilen liest, weiß wovon ich spreche wenn ich sage, wie gut es funktioniert durch diese Art des Erzählens Themen wie Toleranz, Diversität und Freundschaft zu transportieren. Was ist zudem schöner als eine Geschichte, die in einer Familie alt und jung gleichermaßen mögen, wenn so ein generationenübergreifender Austausch am Küchen- oder Kaffeetisch möglich wird? Mehr Leseförderung geht doch nicht, oder?

Bei Garners Wanderheiler sind noch dazu verschiedene Lesarten möglich und jeder darf das entdecken was er entdecken mag, das so etwas zwischen den gleichen Buchdeckeln möglich ist, ist mehr als bemerkenswert. Das muss in diesem Fall wohl auch die Jury des Booker Prize gedacht haben, denn sie hat diese 2021 im Original erschienene Erzählung 2022 auf ihre Shortlist gesetzt. Ich war gespannt, wie es sich anfühlen würde eine Geschichte aus der Feder eines heute 99jährigen zu lesen. Wird sie angestaubt klingen? Diese Erzählung, der ein Satz im Italienischen vorangestellt wurde, ist sowas von nicht eingestaubt! Garner zitiert zu Beginn den namhaften veroneser Physiker und Schriftsteller Carlo Rovelli aus seinem Buch L’ordine del tempo, Die Ordnung der Zeit, mit “Il tempo è ignoranza”. Was ich mir mit, wir wissen rein gar nichts über die Zeit übersetze.

Wird es um sie gehen, in diesem Märchen? Um die Zeit? Wir meinen zu wissen, dass sie vergeht, weil wir unsere Lebenszeit nicht vermehren können, sie nur so gut nutzen können wie es eben geht, mit Inhalten füllen, die uns erfüllen, die Sinn stiften. Aber tut sie es auch, vergehen meine ich? Und wo geht sie denn dann hin?

Was geschieht mit denen, die am Rand unserer Gesellschaften stehen? Mit denen, die nicht makellos sind. Mit den Eigenwilligen. In dieser Geschichte sind das stellvertretend Joe, der eine Augenklappe trägt, weil er auf einem Auge schwachsichtig ist. Der alleine in einem kleinen Haus mit Birnbaum, an einer Eisenbahnstrecke im Nordwesten Englands lebt. Der mir ein nachdenklicher, ausgeschlossener kleiner Kerl zu sein scheint, mit einer unbändigen Neugier auf die Welt, und Treacle. Der Joseph ein leeres Töpfchen schenkt, das irgendwie Wunder wirkt. Oder nicht?

Erica Wagner vom New Statesman wird auf dem Einband zitiert mit “Diese scheinbar kurze Geschichte ist ein hypnotisches Wunder, dass die Grenzen von Zeit und Geist verschwimmen lässt. Echte Magie zwischen harten Buchdeckeln.” Dem noch etwas hinzuzufügen, weil es den sprichwörtlichen Nagel so auf den Kopf trifft, fällt schwer.

Für mich ist es die Geschichte einer Reise. Einer Reise, die die Ränder von Ort und Zeit verschwimmen lässt. Die mich entführt hat, förmlich eingesogen und mich blinzelnd wieder hat auftauchen lassen. Eine Geschichte, die genau zur rechten Zeit zu mir gekommen ist, die meiner Leseseele gut getan hat. Es kommt auf jedes Wort an und jedes Wort sitzt, im diesem Abenteuer, dass wundersam und wahrhaftig bezaubernd in der deutschen Übersetzung von Bernhard Robben bei uns ankommt.

Allerlei Wortspielereien wollen übersetzt sein, dafür findet Robben eigene Begriffe, lässt mich schmunzeln. Oft. Wie ist das wohl, wenn man ein bisschen furibund ist? Oder die Glamourie hat?

Eine Geschichte zum “in einem Rutsch durchlesen”, poetisch, philosophisch und unerwartet. Eine zum Eintauchen und Abtauchen. Zum auf “ganz und gar andere Gedanken” kommen.

Der Kuckuck ruft Joe und sein Spiegel zeigt alles verkehrt herum. Er kann besser sehen, aber nix mehr erkennen und der einzige, der ihm das erklären könnte ist fort. 

Wenn der Zug kommt ist jetzt, vielleicht aber auch Dann. Weil der Moment, das Jetzt doch schon vergangen ist, wenn er da ist. Ergibt das Sinn? Wie auch immer. Es klopft an der Tür. Jetzt. Dreimal.

Trau keinem Spiegel und keinem Comic. Er könnte leer sein. Wünsch Dir was. Vielleicht das:

“Nicht länger das Ticken hören, das Vergehen der Zeit. Kein Morgen und kein Gestern kennen. Frei von Jahren zu sein.” (Textzitat)

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