Der Freund (Tiffany Tavernier)

Was wissen wir über die Menschen, die in unserer Nachbarschaft leben? Wirklich? Wieviel mehr, als den Namen, der an der Klingel steht, kennen wir voneinander? Wen nennen wir gar Freund?

Wie sieht es umgekehrt aus? Teilen wir alle gleich viel? Was hält wer zurück? Wie sehr kann man vertrauen, oder sich täuschen?

Leichtfertig wird der Begriff Freund(in) benutzt. Dieser Tage. Finde ich. Aber da bin ich wohl auch altmodisch. In sozialen Netzwerken, wie bei Facebook, ist man automatisch “befreundet”, wenn man sich folgt, das obwohl man sich mitunter noch nicht einmal persönlich begegnet ist.

Wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten, auch in Freundschaften, und von Ihnen erzählt diese Autorin. Von den Schatten, die im Alltag lauern und wer ihren Roman gelesen hat, wird überdenken, in welchem Zusammenhang er oder sie das Wort Freund(in) noch verwenden wird …

Der Freund von Tiffany Tavernier

Knirschender Kies. Ein Convoi von Polizeifahrzeugen. Scharfschützen. Männer in weißen Schutzanzügen. Betreten ihr Haus. Zwingen sie auf den Boden. In ihrem Wohnzimmer.

Sie heißen Thierry und Élisabeth und sind die Nachbarn. Die Nachbarn von Guy und Chantal. Diesen beiden gilt das Polizeiaufgebot und die sich anschließende Geheimniskrämerei. Denn die Ermittler schweigen sich aus. Auch noch nach dem Einsatz. Stellen nur Fragen und das reichlich. Geben sich gar verächtlich, als sie ihre Freundschaft mit den Nachbarn erwähnen.

Eine Hütte im Wald, unweit des Nachbarhauses. Werkzeug. Untergestellt bei Thierry, der Grund dafür so banal wie glaubhaft und jetzt? Die Forensik sucht nach Spuren. Nach Gräbern. An der Grenze zu ihrem Garten.

Tiffany Tavernier, geboren am 3. Mai 1967, hat bereits 1999 ihren Debütroman veröffentlicht. In ihm hat sie Erfahrungen aus den Sterbehäusern von Kalkutta verarbeitet, die sie dort als Achtzehnjährige gesammelt hat, erfahre ich aus der Verlagsinformation. Die Tochter einer Drehbuchautorin und eines Regisseurs ist viel gereist, u. a. in die Arktis, wo sie auch ihre zweite Geschichte, die im Jahr 2000 erschienen ist, verortet hat. Es folgten acht weitere Romane, darunter 2021 der hier vorliegende, der im französischen Original mit L’Ami titelt und der im Oktober 2024 bei Lenos Polar erschienen ist. Ich darf mich herzlich für das Besprechungsexemplar bedanken.

Wortgetreu übersetzt hat den Titel des Romans, die überwiegend in Paris lebende Anne Thomas mit Der Freund. Diese Buchstabentreue trifft nicht nur den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf und bringt den Kern des Romans auf den Punkt, er darf hier von zwei Seiten gelesen werden. Thierry, der Nachbar, war Guy, dem Täter ein Freund, was aber war er für Guy? Mittel zum Zweck?

Anne Thomas und ihre Übersetzungskunst habe ich vor gut einem Jahr in dem unfassbaren Roman Wolfshügel von Dimitri Rouchon-Borie erleben dürfen. Seinerzeit hat sie mich so dermaßen aufgewühlt, mit ihrem empathischen Gespür für den richtigen Ton, dass ich bis heute beeindruckt daran zurück denke. Meine Besprechung zu diesem Titel verlinke ich Euch daher gerne auch noch einmal, klickt auf das Cover und springt ab:

Um Der Freund bin ich erst “herumgeschlichen”, als mich Anne dann auf ihre aktuelle Übersetzung hingewiesen hat, war klar, ich musste den Roman lesen, wenn sie ein Teil davon ist und ich werde nicht müde zu betonen, was uns entgehen würde, uns, die wir nicht in der Originalsprache lesen können, wenn es diese Kunsthandwerker:innen, die Übersetzer:innen nicht geben würde.

Wie war das diesmal für mich? Wie das Zusammenspiel zwischen Sprache und Handlung? Wie war es zwischen den Zeilen, wo Anne Thomas stets gerne auch einmal einen Satz in der Luft hängen lässt. Wie wunderbar dadurch ein Nachhall entsteht!

Eher kühl geht diesmal ihr Ton mit der Handlung um. Elegant, ohne Schnörkel und beinahe sachlich wirkt er verstärkend für das Geschehen und die von ihr übertragenen Sätze sorgen dafür, das ich mit vor Unglauben und Schrecken weit geöffneten Augen gelesen habe.

Präzise beobachtet und mit reichlich inneren Monologen hat Tiffany Tavernier ihre Geschichte ausgestattet. Sie interessiert sich für den Umgang mit der Tat, den Taten und dafür, was die Aufdeckung mit denen macht, die dem Täter nahe standen, das ohne auch nur das Geringste zu ahnen. Das packt sie in eine düstere Atmosphäre, schafft es ohne brutal zu sezieren allein durch die Lage der Handlungsorte schon für Gänsehaut zu sorgen. Am Ortsrand, in Alleinlage zweier benachbarter Häuser wird jeder Stein umgedreht. Feinfühlig greift Anne Thomas das im Deutschen auf, was der Geschichte gut tut, denn das Meiste spielt sich im Inneren der Figuren ab.

Dann etwa wenn rüpelhafte Pressevertreter ungefragt ihren Fuß in die Tür Unbeteiligter stellen. Immer auf der Hatz nach der ersten, der besten Schlagzeile. Ohne Rücksicht.

Wäsche flattert noch auf der Leine, Fensterläden klappern, an diesem Tag, der beginnt wie jeder andere auch, als die Polizei mit den Verdächtigen das Areal ver- und jede Menge Absperrband hinterlässt.

Der unerhörte Umgang der Presse mit Menschen und Ereignissen, die quälenden Schuldgefühle der Nachbarn, die getriggert werden von Banalitäten: Wozu hatte der Nachbar den ausgeliehenen Hammer wirklich genutzt? Wodurch war das Fenster, bei dessen Reparatur man geholfen hatte zu Bruch gegangen?

Mein Kopfkino lief da jeweils sofort los, Taverniers filmreifes Erzählen erzeugt eine sehr subtile Spannung und gerne gemocht habe ich die psychologische Tiefe und das von ihr gewählte Erzählkonstrukt. Sie lässt ihr Personal tanzen auf dem Drahtseil zwischen Entsetzen und Verrat. Häppchenweise gibt es Ausflüge in die Vergangenheit. Puzzleartig wird ermittelt und kammerspielartig wirken die inneren Monologe von Thierry, dem Nachbarn, dem Freund.

Sprachlich bleibt dieser Roman für mich, im direkten Vergleich, hinter der rauen Poesie von Wolfshügel zurück. Auch hätte ich sehr gerne die Geschichte um die ein oder andere Perspektive ergänzt gesehen. So ist es einzig Thierry und seine Situation, die ausgeleuchtet wird. In seine Vergangenheit führt uns die Autorin, beleuchtet Verlustängste und die quälendste aller Fragen: Hätte er es nicht erkennen müssen, das Böse?

Taverniers Hauptfigur lerne ich als einen Mann kennen, der nicht verwinden kann, dass sein erwachsener Sohn gen Asien abgewandert ist, der einen Bruder verflucht, der ihn als Kind nebst der Mutter verlassen hat. Als ein Unfall im Job einen Kollegen das Leben kostet, trägt er fortan niemandem mehr seine Freundschaft an, bis, ja bis er seinem Nachbarn begegnet. Der ihn, wie wir wissen, täuscht, ausnutzt und offenbar auch geschickt manipuliert hat.

Wie sehr ihn, der wohl bereits als Junge alles mit sich ausgemacht hat, aus der Bahn wirft, was nach und nach ans Licht kommt, darum dreht Tavernier ihren Roman. 

Was macht eine solche Tat, machen solche Taten, mit Unbeteiligten, mit dem Täter Nahestehenden? Was hätte man bemerken müssen? Wie hatte man sich so täuschen können in einem Anderen?

Man ist schockiert. Ich bin schockiert. Schaue mir über die Schulter.

Sehr deutlich wird, nach einem Einstieg, der mit der ganz großen Pauke geschlagen wird und indem die Autorin die Karten in der Folge sehr langsam aufdeckt, wie schnell ein Leben in tausend Teile zerspringen kann und welch unmenschliche Kraft es nicht selten erfordert zu vergeben. Nicht denen, die zum Mörder werden, sondern denen, die einem am nächsten stehen.

Wie kann es gehen, wie kann man weitermachen, wenn sich das Gefühl nicht mehr abschütteln lässt, dass man Teil eines grausamen Geschehens war. Wenn auch nur als Tarnung. Vielleicht.

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