Die Liste der literarischen Preise, mit denen diese Geschichte ausgezeichnet oder für die sie nominiert wurde ist lang. Ich zähle zwölf! Überwiegend verliehen im Erscheinungsjahr des Romans 2021. Die französische Presse überschlug sich mit Lob. Übersetzt aus dem Französischen hat für uns Anne Thomas, im Frühjahr 2023 erschien ihre Übersetzung ins Deutsche, im Lenos Verlag.
Die letzte Seite ist umgeblättert und ich sitze jetzt hier vor meiner Tastatur und meine Hände finden nicht zu den Tasten. Ich beginne zu tippen und lösche es wieder. Ihr seid es gewohnt, dass ich mit einer kleinen Zusammenfassung von nacherzählten Blitzlichtern in meine Besprechungen starte. Diesmal kann ich das nicht. Ich kann nicht erzählen von dem was hier geschieht. An dieser Stelle spreche ich eine Triggerwarnung aus. Kindesmissbrauch, Vernachlässigung und häusliche Gewalt bilden den inneren Kern dieses außergewöhnlichen Romans. Nur wenige finden für Unbeschreibbares die richtigen Worte und eine Erzählform, die es möglich macht sich Grausamkeit(en) so zu nähern, das es für Leser:innen aushaltbar ist.
Dimitri Rouchon-Borie, ist ein solcher Autor. Geboren 1977 in Nantes, studierte er vor dem Einstieg in den Beruf Philosophie und Kognitionswissenschaft. Der Journalist und Gerichtsreporter der Tageszeitung Le Télegramme legt mit Wolfhügel, Originaltitel Le Démon de las Coline aux Loups seinen ersten Roman vor und trifft damit mitten ins Schwarze. In seiner Geschichte in das schwarze Herz eines fiktiven Elternpaares und in mein Leserinnenherz.
Schon beim ersten Satz, über dessen Struktur ich stolpere, wird klar, das ist kein normal erzählter Roman. Das Fehlen vieler Satzzeichen kein Zufall. Hier spricht uns jemand an, der sich nur genauso ausdrücken kann. Der er es nicht anders gelernt hat. Seine Sprache wirkt unfertigt, ist gefärbt von einer sehr eigenwilligen Grammatik, kommt ohne Kommas aus, dann wieder kommt doch eines und ich frage mich warum. Lese den Satz dann noch einmal. War diese Pause, dieser Stopp beabsichtigt? Was will sie mir verdeutlichen? Ich komme in den Satz zurück lese ihn nochmals. Ganz oft mache ich das, habe mich selten so beim Lesen mit der Struktur eines Textes beschäftigt. Finde eine vor, die nur so zu diesem Inhalt passen kann. Befinde sie für grandios in ihrer Schlichtheit! Hart und punktgenau.
Was zunächst etwas sperrig wirkt, löst sich und dieses Erzählen verbindet mich rasch mit der Hauptfigur dieser Geschichte. Es geht um Duke. Um eine Welt in die er hineingeboren wird und hineinwächst, die düster ist und es bleibt. Wir lernen mit ihm. Erfahren die Welt seines “Außerhalbs” durch seine Augen.
Wir lernen ihn kennen, da sitzt er ein und vor einer Schreibmaschine. Im Knast hat er endlich richtig lesen gelernt und versucht jetzt zu schreiben, aufzuschreiben was er erinnert von der Zeit mit Eltern und Geschwistern, in diesem Haus am Rande eines Ortes, an einem Ort den der Vater den Wolfshügel nannte.
Nach und nach führt er mich zurück, ich höre den Anschlag seiner Tasten. Erfahre von Hunger, Vergewaltigung, einem dunklen Keller und einem Dämon, von dem er sagt, er weiß noch genau wann es war, als er sich in ihm einnistete. Auf dem Schulhof. Als Willy ihm das Pausenbrot aus der Hand getreten hat, nachdem er zwei Tage lang nichts zu essen hatte. Wie er ihm da die Zähne ausgeschlagen und eine Gehirnerschütterung verpaßt hatte. Das ihn die Polizei hernach nach Hause gefahren hatte und als sie fort waren, da hatte der Vater eine neue Strafe an ihm ausprobiert.
Ich erfahre aber auch von Nähe. Von einer, die ihn am Leben gehalten hat. Von der zu seinen Geschwistern. Von Nestwärme, wie er sagt. Weil alle zusammen auf dem Boden schliefen, zusammen mit ihren Katzen, in einem Nest eben, sich gegenseitig wärmend. Wie sie miteinander das Essen teilten, wenn einmal am Tag die Schüssel auf den Boden gestellt wurde. Wie sie dafür sorgten, dass die Kleinen immer etwas bekamen, wenn es erkennbar nicht für alle reichte.
“Draussen fühlte ich mich gut weil ich zwischen herrlichen und verrückten Erfindungen in der zerstäubten Wärme stand und da waren Bäume, Pflanzen, Steine. Ich hob sie auf und steckte sie in die Tasche und liess sie knirschen und ich dachte das wäre das Lied der Welt.”
Textzitat Wolfshügel von Dimitri Rouchon-Borie
Was haben sie nur aus dir gemacht Duke? Bezahlen sollen sie dafür, sagen die beiden Polizisten. Es soll einen Prozess geben. Und es gibt ihn. Für Vater und Mutter. Alles kommt wieder hoch. Geschworene weinen. Du zeigst uns wie es ist bei Fremden zu wohnen, ohne die Geschwister. So einsam inmitten von gemeinsamen Mahlzeiten. In einem eigenen Zimmer, mit einem Bett. Du schläfst immer noch auf dem Boden. Wirst getriggert. Weinst oft. So einfach ist es nicht jemanden zu retten, sagst du. Du lernst lesen. Es verändert dein Leben. Ich fühle das.
In Märchen ist der Wolf das Sinnbild für das Böse. Er ist ein Raubtier und sein Bild wurde von berühmten Philosophen ebenso bemüht wie von Theaterschaffenden, um zu verdeutlichen was Menschen Menschen antun. Können. “Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf”. Dieser Satz lässt vielfältigste Deutungen zu und auch dieser Text von Dimitri Rouchon-Borie tut das. Noch lange nach dem Lesen spüre ich eine tiefe Erschütterung und gleichzeitig empfinde ich eine große Dankbarkeit, diesen Text habe lesen zu können. Anne Thomas macht es mir möglich, mein Französich hätte nicht gereicht, es ist auch ihre Übersetzung, die mich so angefasst hat. Sie hat einen Weg gefunden, die von nur wenigen Satzzeichen durchbrochenen Sätze von Rouchon-Borie im Deutschen so klingen zu lassen, dass ihre kindliche Reduziertheit sie einschlagen lässt wie Granaten. Sie haben eine so unverstellte Klarheit und Unschuld, dass sie mir die Wuttränen treiben und entfalten dann in mir drin eine Wucht, die mich nicht nur hart schlucken lässt, ich lege den Text zur Seite. Muss das tun. Kann mich aber auch nicht abwenden. Will das auch nicht. Im Buch tun das viel zu Viele. Die sehenden Auges wegsehen. Auch das macht mich wütend. Besonders das. Weil es nicht weniger schlimm ist, als die rohe und die psychische Gewalt, die diese Kinder erleben müssen.
Warum so viele literarisch Kundige diesen Text von Rouchon-Borie ausgezeichnet finden, verstehe ich jetzt. Er schafft das eigentlich Unmögliche. Unaussprechliches auszusprechen und dafür eine ganz einzigartige Sprache zu finden. Ihm gelingt es, dass seine Opfer nie bloßgestellt werden, Taten für sich stehen, nichts relativiert wird und die innere Auseinandersetzung eines Opfers, das zum Täter, zum Mörder wird, für uns so sichtbar wird, als schauten wir einen Film. Einen Film mit vielen Schnitten. Der uns zeigt wie sehr Duke verletzt worden ist, körperlich und seelisch. Wie er sich immer wieder aufrichtet, als Kind, als Mann und wie er im Schreiben eine Form des Ausdrucks findet, die anderen und schlußendlich ihm selbst erklärt was da Geschehen ist. Die Hoffnung für ihn ist. Die ihn so etwas wie Frieden finden lässt.
Hilflos kann er nicht der Beschützer sein, der er sein will. Nicht für seine Geschwister, seine Schwester, nicht für Billy. Sie sieht er springen. Ihr Leben verlieren. Es kostet ihn alles. Unrettbar verloren. Das ist er.
Das Debüt von Dimitri Rouchon-Borie ist groß. Großartig erzählt. Geisterhaft und düster. Soghaft und radikal poetisch. Man will es fassen. Dieses Geschehen. Begreifen und es bleibt doch unfassbar. Die ganze Geschichte. In der Ort und Zeit keine Rolle spielen. Der Wolfshügel kann überall sein. Vielleicht sogar in unserer Nachbarschaft. Einsame Häuser am Waldrand werde ich nie mehr so ansehen wie vor dieser Lektüre. Habe ich mich immer schon gefragt, was dort hinter verschlossenen Läden vorgeht, tue ich das heute auf eine andere Art und Weise …
Mein herzlicher Dank geht an den Lenos Verlag für dieses Besprechungsexemplar. Diesen Autor behalte ich ab jetzt ganz genau im Auge!
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