Dünnes Eis (Theres Essmann)

Wer in den Zwanziger Jahren geboren wurde, hat den Zweiten Weltkrieg als Kind miterlebt und blickt heute als Senior:in darauf zurück. Hat möglicherweise ein Elternteil, häufig den Vater verloren. Oder hat, wer jünger ist, so wie ich, Großväter erlebt, die in Kriegsgefangenschaft geraten, die mehr oder weniger versehrt nach Hause gekommen sind. Denen Bilder in den Knochen steckten über die sich nicht sprechen konnten. Alte Fotos in Sepia erzählen uns von der Zeit, in der unsere Eltern und Großeltern jung gewesen sind. Im Wohnzimmer meiner Großmutter hing ihr Hochzeitsfoto in einem ovalen lackschwarzen Rahmen. Ich konnte gar nicht glauben, dass sie das ist, kannte ich sie doch nur so: Mit langem grauen Haar, das sie in der Früh immer zu einem strengen Dutt aufgedreht hat.

Bilder erzählen uns auch von der Zeit des Wirtschaftswunders in den 1950zigern. Von einer Zeit, in die man mit Hoffnung im Herzen gestartet ist. Was nicht alles seither passiert ist, entwickelt worden und von besonders zu normal geworden ist. Ich denke an die Erfindung des Farbfernsehens und an seine Verbreitung Ende der 1960ziger, an die Ölpreiskrise Anfang der 1970ziger, die autofreie Sonntage hervorbrachte. Erinnere eine Zeit, in der nicht jeder Haushalt ein Telefon hatte, heute trägt man es in der Hosentasche und zahlt sogar damit. Von einer Frau, deren hunderstes Lebensjahr anbricht, von dem was sie erinnert, was sie sich bewahren konnte und davon was sie tief in sich verschlossen hat, erzählt uns Theres Essmann in ihrem neuen Roman:

“Er war lang, der erste Tag ihres hundertsten Lebensjahrs. Bald wird der Schlaf sich darüber legen. Über alles. Und über sie.”

Textzitat Theres Essmann Dünnes Eis

Dünnes Eis von Theres Essmann

Rote Rosen. Neun, keine neunundneunzig. Was den Rahmen gesprengt hätte, sagt Herr Groß, er hat das Sagen hier in der Residenz und überreicht ihr den Strauß zusammen mit diesem Satz. Ein Foto dieser Überreichung. Muss sein. Es ist eines von vielen heute. Sie ist müde. Vermisst Gisela. Die vor ihr gegangen ist. Wie so viele andere, die sie überlebt hat. So ist das wohl, wenn man so alt wird, das einen der Tod vergisst. Gisela war ihr eine Freundin gewesen, hier in der “Resi”. Hatte im wahrsten Sinne des Wortes mit einem pinkfarbenen Schal Farbe in ihre graue Garderobe und in ihr Leben gebracht. In den Nächten hatten sie beieinander gewacht, wenn der Schlaf nicht hatte kommen wollen. Hatten sich zugehört. Auf ihre Leben geschaut. Während Giselas vorwitziger Wellensittich unter seinem Tuch friedlich geschlummert hatte.

Jetzt war ein neuer Nachbar eingezogen. Das ging hier schnell. Einer, den hier keiner mochte. Herr Tacke war ein mürrischer Mann, in sich gekehrt und abweisend. Man tuschelte hinter seinem Rücken über ihn. Er sei ein Nazi. Gewesen. Oder immer noch? Warum sonst trug er ausgerechnet ein Hitlerbärtchen? Etwas treibt ihn. Diesen Herrn Tacke. Das spürt Marietta. Er spricht davon, das Reue auch nicht mehr helfe. Was hat er getan oder was eben auch nicht?

Theres Essmann, geboren 1967, hat Germanistik und Philosophie studiert, lebt und arbeitet in Stuttgart, als Poesietherapeutin und Referentin für kreatives Schreiben. Nach ihrem preisausgezeichneten Debüt Federico Temperini aus dem Jahr 2020, legt sie jetzt mit der Geschichte von Marietta nach. Scheinbar mühelos schüttelt sie sich dabei die schönen Sätze aus dem Ärmel, die ein ganz leichter, trockener Humor garniert, wie die Kirsche auf der Geburtstagstorte. Die es an diesem 99. gar nicht gibt fällt mir auf.

Essmanns Blick auf das Altsein ist liebevoll nachdenklich. So viel wurde zurückgelassen, viel ist verlangsamt, der Blick vom grauen Star getrübt, der Geist ihrer Heldin aber noch wach. Wach genug um Zusammenhänge zu erfassen, die das politische Weltgeschehen, mittels Wohncontainern auf den Acker wirft, der an ihre Seniorenresidenz angrenzt. Dort sind Flüchtlinge untergebracht und ein kleiner Junge, dem sie im Park begegnet, erinnert sie an ihren Sohn. Den sie im Krieg auf der Flucht verloren hat. Ihn hatte der Tod früher gefunden als sie, genau wie ihren Mann, der von der Front nicht heimgekommen war. Dieser Junge und Herr Tacke, der ausgerechnet in Giselas Zimmer einziehen musste, wecken in Marietta etwas auf, das lange den Schlaf des Vergessens geschlafen hat. Wie ein Drache der seine Glieder streckt, beginnt sich ihre Vergangenheit rühren …

Behutsam nähert sich Essmann den Wunden ihrer Protagonistin. Bleibt dabei stets wunderbar empathisch bei ihrer Figur. Die Leichtigkeit mit der sie schreibt trägt den Roman, verhindert aber zu keiner Zeit die Tiefe, die sie ihrer Protagonistin zuschreibt. Was ich als Kunststück empfinde und sehr an Theres Essmanns Schreiben schätze. Das war schon bei ihrem Federico Temperini so. Mit dieser Geschichte, in der sie einen geheimnisvollen alten Herrn und einen Taxifahrer mit dem Teufelsgeiger Nicolò Paganini verbindet, hat sie mich angefixt. Ich füge Euch an dieser Stelle mal das Cover dieser Novelle ein, mit einem Klick darauf landet ihr in meinem Beitrag dazu:

In Dünnes Eis sagt Essmanns Marietta: <Wer hier alt wird ist privilegiert>. Sie war Lehrerin gewesen. Lebte jetzt hier seit zwanzig Jahren. In der Resi. Nach dem Tod ihres Mannes war sie umgezogen. Zählte seinerzeit zu den “Rüstigen”, trat den “grünen Damen” bei, die ehrenamtlich Kranke besuchten, Sterbende und Einsame. War die “Vorleserin” im Team. Versuchte mit Hilfe der Literatur Trost zu spenden. Als Herr Tacke in Giselas altes Zimmer einzieht und an Leberkrebs erkrankt, lässt sie sich ein letztes Mal überreden als “grüne Dame” in Aktion zu treten. Denkt an Rilke oder Ringelnatz um ihn aufzuheitern. Schlägt fehl. Kommt doch ins Gespräch, entdeckt Unerwartes, denn ihr Nachbar sammelt Flüsse. Hat ganze Dossiers angelegt, in grauen, unscheinbaren Aktenordnern archiert er seine Erinnerungen. An Radtouren entlang von Ufern. Einen Ordner aber darf sie nicht ziehen. Da reagiert er schroff und energisch. Was Marietta aufhorchen lässt. Mich auch, denn beide scheint da etwas zu verbinden …

Nicht nur Herrn Tacke begegnet die fast hundertjährige Marietta auf Augenhöhe. Das macht sie als Figur so liebenswert. Anlässlich ihres Geburtstages trifft sie auf Julia, eine junge Frau, die sie als Volontärin für die Wochenzeitung ablichten soll und die ein ganz besonderes Auge hat. In ihren Fotos erkennt sich Marietta neu, die Altersflecken auf ihren Händen, die feinen Knitterfältchen, ihre heruntergerutschen Wollsocken. Einiges von dem was Julia an ihr sieht, hat sie noch nie gesehen, oder noch nicht so? Auf diese wohlwollend neugierige Art. Als beide während ihrer Fotosession im Gesträuch des Parks auf einen Jungen treffen, der da ganz offensichtlich nicht hingehört, weckt das der alten Dame eigene Gespenster …

“Wie regungslos und dunkel die Bäume stehen, als hätten sie sich jetzt in schwarze Umhänge gehüllt und seien an den Rand der Bühne getreten, die nun dem Abendhimmel gehört. Eine blaue Stunde lang. Ein Blau so hoch und tief wie die Ewigkeit.”

Textzitat Theres Essmann Dünnes Eis

So ist das wohl mit dem Altsein. Man lebt für das Gestern. Wer jung ist, lebt für das Heute, wenn es gut läuft für das Morgen. Ich mochte sehr wie Theres Essmann das nachzuvollziehen versucht. Wenn wir Glück haben, wartet ein gesegnetes Alter auf uns. Vieles wird beschwerlicher werden, manches leichter. In jedem Alter kann man etwas bewirken, auch davon schreibt Essmann, für sich, für andere. Es ist nie zu spät um Freundschaften zu schließen. Wenn man sich selbst nicht verschließt. Ihre Marietta macht es uns vor. Ohne mahnenden Zeigefinger. Sie macht, hält durch und aus. Jede Menge. 

Liebe Theres Essmann, ich freue mich schon sehr auf die nächste Figur aus ihrer Feder. Alle bisherigen sind mir ans Herz gewachsen. Euch, die ihr sie noch nicht kennt, lege ich sie sehr gerne an das Eure. 

Dünnes Eis ist im Dörlemann Verlag erschienen, ich darf mich beim Verlag und beim Team von Kirchner Kommunikation für dieses Besprechungsexemplar ganz herzlich bedanken.

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