Der Empfänger (Ulla Lenze)

Ein jährlich veranstaltetes Schul-Picknick endete am 15. Juni 1904 in einer Katastrophe. Im Frachtraum des Schaufelrad-Dampfers “General Slocum”, der für die Überfahrt auf dem East River nach Long Island gechartert war, brach ein Brand aus und von den rund 1.300 Passagieren starben 1.000. Das sowohl die Rettungsboote, als auch die mitgeführten Rettungsringe, in einem mehr als schlechten Zustand waren, machte rasch die Runde und in der Folge gab es Streit um Entschädigung, der Wunsch einen Schuldigen ausmachen zu können spaltete die öffentliche Meinung, und die aufstrebende deutschsprachige Kolonie New Yorks zerfiel. Geschäfte konnten nicht mehr weiter geführt werden, viele der überlebenden Angehörigen und Freunde Verstorbener nahmen sich gar nach diesem Unglück das Leben. Vielleicht ist es dieses Ereignis der Geschichte, das dafür sorgte, das es im Big Apple neben China Town und Little Italy heute keinen Stadtteil Kleindeutschland gibt. Mehr als die Hälfte der Bäcker und Schreiner in New York waren seinerzeit Deutsche oder deutscher Herkunft, viele lebten in dem Viertel rund um den Tompkins Square Park, dem heutigen East Village.

Zählte man 1910 noch 542.061 Deutsche unter den Einwandern in New York, so sank ihre Zahl bis 1930 auf 249.755. Vielleicht, wahrscheinlich, blieb auch der Eintritt der Amerikaner in den Ersten Weltkrieg 1917 für die deutsche Gemeinde in New York nicht ohne Folgen. Das einst so hohe Ansehen der Deutschen schwand. Sogar in den Alltagssprachgebrauch übernommene Begriffe wie Sauerkraut, Bier und German Gemutlichkeit wurden verbannt und war Ellis Island, einst Eintrittstor für Einwanderer aus aller Welt, so wurden seine Gebäude jetzt mehr und mehr zu Internierungszwecken genutzt …

Mit einer, wie ich finde bemerkenswerten Autorin, betreten wir die New Yorker-Szenerie des Jahres 1939 auf einer von drei Handlungsebenen ihres Romans, in dem sie die Geschichte ihres Großonkels fiktional verarbeitet hat …

Der Empfänger von Ulla Lenze

Ein Besuch, ein Wiedersehen nach fünfundzwanzig Jahren für Karl und Josef. Josef war ausgewandert, nach Amerika. Seinen Bruder Karl, der mit ihm Englisch gelernt hatte, hatte er zurück lassen müssen. Bei einem Unfall, bei Schweißarbeiten, hatte dieser ein Auge verloren und damit seine Eintrittskarte in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Versehrte brauchte man dort nicht …

Mit Päckchen und Briefen hatten sie den Kontakt gehalten. Glaubten noch immer sich zu kennen. Der Karl, der war jetzt verheiratet. Der Josef nicht, aber die Frau seines Bruders gefiel ihm nicht schlecht …

Ulla Lenze, geboren am 18. September 1973 in Mönchengladbach. Lebte zeitweise in Indien, arbeitete als Stadtschreiberin, auf Einladung des Goethe-Institutes, in Damaskus. 2014 begleitete sie Außenminister Steinmeier mit einer Delegation nach Neu-Dehli. Heute lebt Ulla Lenze als freie Autorin in Berlin. Sie formuliert mit einer Knappheit und Präszision vor der ich Hochachtung habe. Die Stimmungen die sie erzeugt sind intensiv, so lässt sie ihren Joe bei seiner Rückkehr nach Deutschland wie im Nebel stehen zwischen Schuldgefühlen und Neid.

Sprachlich eloquent und mit sehr feinem Gespür für ihre Protagonisten und die jeweilige Situation erzählt sie Josefs Geschichte. Ihren Roman lässt sie 1953 in Costa Rica beginnen und enden, dazwischen pendelt sie zwischen den Jahren 1949 und 1939.

Im Jahr 1939 beginnt Joe ein bescheidenes Junggesellenleben als Auswanderer in New York, besucht Jazz Clubs, ergattert einen Job in einer Druckerei. Dieser Job ist es, der ihn in Kontakt mit einem Herrn Schmuedderich bringt und er lässt sich arglos von der Nazi-Clique um einen  Ingenieur Dörsam für einen Auftrag anwerben, gerät seiner Naivität wegen in den Dunstkreis von Faschisten. Als Hobby Funker der er ist, soll er Daten einer Hamburger Textilfirma nach Deutschland senden. Alles harmlose betriebswirtschaftliche Informationen versteht sich, die nur deshalb verschlüsselt werden, damit das Betriebsgeheimnis gewahrt bleibt. Wie sich bald herausstellen wird, sind diese Funksprüche alles andere als das und das FBI nimmt ihn auf’s Korn …

Ulla Lenze lässt mich gleich zu Beginn mit einer Andeutung ahnen, dass ich mit ihrer Geschichte nicht nur als Fan historischer Geschichten der jüngeren Vergangenheit auf meine Kosten kommen werde, sondern das hier auch ein Spion auf mich wartet. Ich gestehe: Für gute Spionagegeschichten habe ich eine Schwäche. Bei Ulla Lenze kann man beides haben. Spannung und Geschichte satt. Ihr Roman ist dafür, wie es sich gehört, geschickt aufgebaut, ihre Figuren haben Fleisch an den Knochen, sind griffig und lebensecht. Sprachlich mochte ich sie gerne lesen, weil sie flüssig erzählt, das mit Anspruch und weit jenseits von platt.

Die Funksprüche, die ich hier empfange und die Stimmen aus dem Äther sind anfangs noch Geplänkel, dann morst es Geheimnisse und auf dem Fuß folgt ein Verrat. Ein Geständnis führt ins Gefängnis. Spion wider Willen? Also ich weiß ja nicht. Kann man so naiv wirklich sein? Darf man das auf die falsche Gesellschaft allein zurück führen?

Dabei fing alles so verheißungsvoll an. Staunend kann man hier mit Joe Klein im New York der Vierziger Jahre durch die Straßen streifen. Zu Wolkenkratzern aufschauen. Er wohnt in Harlem, einem Viertel, das die Holländer mittlerweile verlassen haben, in dem ihre schönen Häuser aber noch immer stehen. Lernt über Funk eine Frau kennen und gewöhnt sich an sie. 

Ulla Lenze schreibt herrlich bildhaft, sie lässt mich tief eintauchen in diese Zeit und in ihre Geschichte. Überlässt es ihrer Hauptfigur mir von politischen Wirren, falschen Idealen und Verbohrtheit zu erzählen. Fanatismus war und ist zu keiner Zeit eine Alternative. Ich erlebe einen Aufmarsch, rechtsnationaler Kräfte des amerika-deutschen Bundes, der zwanzigtausend Teilnehmer stark ist, im Madison Square Garden, der mit Rednern gespickt ist und der anmutet wie ein Reichsparteitag mitten in New York. Mich gruselt. Adolf Hitler steht auf der New York Times Bestenliste. Mein Kopfkino läuft in Sepiatönen ab, auch als Zeitungsschlagzeilen hinzukommen, die lauthals von einem Anschlag berichten. 50 Menschen sind tot. 

1942 enttarnte das FBI die Operation Pastorius. Die deutsche Abwehr rekrutierte seinerzeit unter den Einwanderern Amateure, die dabei helfen sollten , Industrieanlagen und Verkehrswege der Amerikaner zu zerstören. Auf der Basis dieser Operation gründet Ulla Lenze ihren Anschlag im Roman und verstrickt Joe. Dabei war er im Grunde ganz einfach gestrickt, oder nicht?

“Einfach ein Mensch sein, dachte er. Der isst, atmet, schläft, arbeitet. Nein, manchmal mit Frauen flirtet, sofern sie über dreißig waren. Einfach sein. Irgendwann kam die Einsicht, das einfaches Sein das Schwierigste war. Alle wollten irgendetwas aus einem machen – und sei es, einen Deutschen, der nichts dafür konnte, Deutscher zu sein.”

Textzitat Ulla Lenze Der Empfänger

Erst Gefängnis dann Internierungslager. Wenn er dabei hilft das deutsche Spionagenetzwerk zu zerschlagen, bietet man ihm eine mildere Haftstrafe an und schiebt ihn dann sogar im Sommer 1949 nach Deutschland ab. Wo er bei seinem Bruder und dessen Frau für drei Monate unterkommt. Aber auch hier kommt er nicht zur Ruhe. Nur zu gerne würde es ihm gelingen, sich von dem Erwartungsdruck zu befreien, der auf ihm lastet. Hier verharrt er in Warteschleife, bis er wieder zurück kann in die Staaten.

Über exotische Häfen, gelangt er dann tatsächlich nach Buenos Aires. Wo er für zwei Jahre verbleibt. Mal im Staub, mal im Schlamm. Ein Job als Gärtner und Hauswart hält ihn über Wasser. Er spart noch immer, will noch immer  über Mexico zurück nach Amerika, aber seine selbstgemachten Papiere nahm man jetzt genauer unter die Lupe …

Wer ist dieser Joe eigentlich? Täter oder Opfer? Verräter oder Kollaborateur? Er lässt sich benutzen von beiden Seiten, scheint mir mehr ein reiner Befehlsempfänger zu sein …

Besser spät als nie, bin ich durch die Hörbuch-Fassung, auf diesen Roman aufmerksam geworden. Diesmal habe ich im Wechsel gehört und gelesen und beides hatte seinen Reiz, nicht zuletzt weil als Vorleser mit Frank Arnold ein Profi am Start ist, der sich nicht aufdrängt, der mit richtigen Portion Feingefühl bei den Figuren und insbesondere bei Josef ist und mich sicher durch diese aufgewühlten Zeiten gelotst hat. Von daher, wer die Wahl hat, hat die Qual – entscheidet Euch, welches Medium Euch lieber ist. Diese Geschichte ist in jedem Fall eine Empfehlung.

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