Das Café ohne Namen (Robert Seethaler)

Wien und seine Kaffeehäuser, eine Tradition, die die UNESCO 2011 auf die Liste des immateriellen Welterbes gesetzt hat. Stefan Zweig bezeichnete sie in seinen Memoiren als unvergleichlich. Ihn zählt man auch zu den sogenannten Kaffeehaus-Literaten, die Ende des 19. Jahrhunderts die Wiener Kaffeehäuser zu Ihrer Arbeitsstätte und einer besonderen Einkehr machten.

Die Tageszeitung, ein Kaffee, immer serviert mit einem Glas Wasser und dann stundenlanges Verweilen. Auf ein Gespräch vielleicht oder nur um Vorübergehende, Kommende und Gehende zu beobachten. Das kann man heute noch hier, wie auf einer Insel im Strom …

Das Café ohne Namen von Robert Seethaler

Wien 1966, unweit des Praters und des Augartens.

Robert Simon, Vollwaise, Gelegenheitsarbeiter, ist jetzt also der neue Pächter des Marktcafés. Er mistet aus, wirft sie weg, die Hinterlassenschaften seines Vorgängers, der über Nacht verschwunden war. Robert putzt und räumt, sucht nach einem Namen für seine Wirtschaft, findet keinen und eröffnet ohne, aber mit Angst vor der eigenen Courage.

Mila hat ihre Arbeit verloren, weil die Chinesen es für weniger Lohn taten. Das Nähen. In einer Textilfabrik wie der ihren. Wochenlang schon war sie seither auf der Suche nach einem Job. Klapperte Adressen ab. Sammelte Absagen ein. Ausgerechnet vor der Auslage eines Metzgers wird sie jetzt ohnmächtig. Der ist zum Glück eine gute Seele und ein Freund von Robert Simon. Er hilft ihr auf und Mila fängt an. Im Café. Das keinen Namen hat. Immer noch nicht. Dank des Metzgers Intervention und weil sie die meisten Menschen aushalten kann …

Robert Seethaler, geboren am 07.08.1966, österreichischer Schriftsteller, Grimme-Preisträger und Matthias Brandt, geboren 07.10.1961, deutscher Schauspieler, jüngster Sohn des Ex-Bundeskanzlers Will Brandt und mein Bücher-Flüsterer, sind wieder vereint. In einem Hörbuch. Besser geht nicht. Für mich. Die Latte liegt hoch auf. Werden die beiden mich wieder abholen können? Sie können!

Seethaler braucht nicht viele Worte um mir seinen Robert Simon näher zu bringen. Bereits nach dem ersten Kapitel sehe ich ihn vor mir, seine sehnige Gestalt, ungelenk steht er da, mit blitzblauen Augen. Kein wirklich schöner Mann, aber ein integerer, fleißiger. Er scheint mir ein guter Zuhörer zu sein, vielleicht wird ihn das ja zu einem guten Gastwirt machen. Was sein Traum ist. Schon lange.

Brandt fängt ihn stimmlich auf und ich will mehr. Mehr erfahren. Denke an <Ein ganzes Leben>, das bei Seethaler in 155 Seiten passt und an seinen Andreas Egger, meine Lieblingsfigur und mein Lieblingsroman von ihm. Auch im Café ohne Namen erkenne ich die gleiche ruhige Erzählart. Es braucht keine Kraftausdrücke um Wucht zu erzeugen, die stille Nachdenklichkeit die mich zwischen Seethalers Sätzen bewegt, reicht völlig aus und ist wie gemacht, nein, eine Steilvorlage für Brandt. Mit einer ungeheuren Empathie für die Figuren des Romans liest er. Mit angezogenen Knien sitze ich da und höre ihm zu. Es fällt mir niemand ein, der als Sprecher besser passen würde. Was dieser Text an Strahlkraft gewinnt durch seine Lesung ist einfach nur wunderschön!

Barfuß am Ruhetag, warum auch nicht. Jetzt leistet er sich einen. Alles wird leicht. Schön wär’s. Robert Simon ist kein Schwarzseher und doch wirkt er beschwert. Trotz freiem Tag in der Woche und geschenkter Zeit. Andere finden ihr kleines Glück. Mila mit René. Ausgerechnet mit René. Sagen die zwei, die immer hier sitzen, und wie Waldorf und Statler aus der Muppetshow, jeden kennen, zu allem eine Meinung haben und diese auch laut kundtun. Ein Unfall, der kostet drei Finger und einen Daumen, aber nicht das Leben. Das ist schon auch Glück, oder?

Ein Kind will nicht auf die Welt, die Eltern ein ungleiches Paar. Schlägereien, Ehebruch und Schreierei. Was die Liebe anrichten kann. Der Markt brennt. Vor dem Café.

Eine tote Taube. Frische Farbe und eine Zufallsbegegnung. Vertrautheit, die sich einstellt, obwohl man sich doch fremd ist. Selbstmordversuch oder Hilfeschrei? Mit einem Schraubendreher kann man auch wen erstechen. Ein Toter treibt in der Lobau.

Ein bisschen wie in einem Bühnenstück treten nacheinander und reih um die Protagonisten auf. Ein jeder schultert seinen Rucksack, seine Erinnerungen, füllt seine Tage so gut er eben kann. Es läuft nicht alles geradeaus. Nein, das Leben fährt mit den meisten hier ziemlich Schlitten, das Schicksal teilt Schläge aus.

Roberts Zimmerwirtin, Martha Pohl, die hier nur die Witwe heißt, und ihm wie eine Blutsverwandte nahe kommt, verliert sich nach und nach an die Demenz. So vieles davon erkenne ich wieder. Nur wer in diesen Stiefeln steht kann das ermessen. Es tut weh.

Heute ist die Wiener Leopoldstadt, das ehemalige jüdische Stadtviertel, mit ihrem Karmelitermarkt ein Szeneviertel, mit trendigen Bars und Aussicht auf das Riesenrad im Prater. In den 1960ziger Jahren hatten es die, die hier lebten nicht so dicke, aber die Geselligkeit spielte auch seinerzeit eine Rolle. Im Roman scheinen alle Wege ins Café zu führen. In das mit ohne Namen. Alle Fäden laufen hier zusammen und eine unsichtbare Hand führt Regie. Das ist gut so. Alles fließt. Alles fügt sich.

Ungefragt mitgeteilte Meinungen. Klatsch und Tratsch. Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, leben muss man es vorwärts, meinte der Philosoph Søren Kierkegaard. In den Biergläsern des Cafés landen viele Fragen. Auch die nach dem Sinn des eigenen Lebens. Die Antworten darauf sind ja eher selten auf dem Boden eines Glases zu finden, vielleicht aber im Gespräch mit einem Gegenüber. Das findet man hier. Wenn man will. Auch gemeinsam schweigen geht. Weil das manchmal das Einzige ist, was es noch hilft. Der Mensch braucht die Angst sonst lernt er nichts, schon wieder fällt mir Kierkegaard ein, ich schaue auf die Figur des René im Roman, der vor der seinen davonläuft, als wüssten wir nicht, das sie jeden von uns einholt. Immer.

Was mochte ich das gerne! Dieses sanfte Rühren am Inneren der Figuren. Ein um den anderen Satz drehe ich mich um und schaue auf mich selbst und in einem harten Winter mit Robert aus dem Fenster der Gaststube ins Schneegestöber. Vergesse die Zeit, am liebsten auch alle Kümmernisse und die Tatsache, dass die Gäste gerade ausbleiben. Ausgerechnet ein Punsch soll da das Auskommen retten?

Genau um solche kleinen Wunder geht es. Es geht um Alltagsfluchten und das Glück, das in den kleinen Dingen liegt.

Es geht um die Zeit. Um Veränderungen, die niemand aufhalten kann. Nur aushalten. Es herrscht ein Kommen und Gehen. Jemanden der fort will, kann man nicht halten. Ein Abschiedsfest. Eine Brücke stürzt ein und das Leben geht weiter, als schere es sich nicht um derlei Kleinigkeiten. 

Die Liebe zu Wien, seine Traditionen und ein positives Menschenbild spiegeln sich in dieser Geschichte wie ein Spatz in einer Pfütze. Niemand ist eine Insel, alle stehen in Beziehung, auch dann wenn sie vom Gegenteil überzeugt sind. Warmherzig und traurig. Humorvoll und augenzwinkernd fällt mir dazu ein. Ich wische mir ein Tränchen aus dem Augenwinkel. Herzensbuch halt. Mit Figuren wie aus Fleisch und Blut, ihren Herzschlag spüre ich bis hierher. Danke dafür!

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    17. Mai 2023

    Sehr gerne Angela, vielen Dank für Deine Rückmeldung. Es freut mich, wenn es Dich anspricht. Liebe Grüße von Petra

  2. Angela Busch
    16. Mai 2023

    Sehr schön, Danke für Deinen Höreindruck liebe Petra !

    Herzlich
    Angela vom Literaturgarten

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