Wir leben hier, seit wir geboren sind (Andreas Moster)

Wie sehr ich ihn liebe, diesen Wow-Effekt. Wenn ich in einen Roman einsteige, mit den Erwartungen die ich eben habe und dann überrascht werde. In diesem Fall überrumpelt. Nein, ich hatte nicht hineingelesen. Ihn mir blind bei meinem Buchhändler bestellt und erst zu Hause den Buchdeckel geöffnet. Die Widmung auf der ersten Seite lautet: Für Petra. Ist es zu glauben? Zum Glück, hatte ich mich hingesetzt um die ersten Sätze zu lesen. Denn sie haben das Zeug dazu einen “umzuhauen”. Und dabei bleibt es nicht. Bei einigen wenigen starken Sätzen. Andreas Moster kann glaube ich keine anderen. Ich bin gleich sitzengeblieben und habe weitergelesen, war gefangen in diesem Tal, diesem Ort ohne Namen. Irgendwo in den Bergen. Vom ersten Satz an:

“Ein Mann kommt in unser Dorf und dreht die Steine um und die Köpfe der Mädchen.”

Textzitat Andreas Moster

Wir leben hier, seit wir geboren sind von Andreas Moster

Ihre Hand schmerzte noch immer als sie die Schule erreichte. Ohne erkennbaren Grund hatte der Vater sie ihr beim Frühstück zusammengedrückt, wie in einem Schraubstock. Erst kaltes Wasser in der Spüle hatte es möglich gemacht, dass sie die Finger wieder auseinanderbekam. Die Mutter hatte ihr geholfen. Schweigend. Das Pochen in der Hand erinnerte sie an den Blick des Vaters. Dem man nichts vormachen konnte.

Sie hatte geträumt in der Nacht. Von diesem Mann. Der gestern in ihr Dorf gekommen war. Sie hatten auf der Mauer gesessen, sie und ihre Freundinnen. Ihn beobachtet. Wie er die Steine, die oben auf der Mauer lagen, einen nach dem anderen umgedreht hatte. Mit einer Hand. In der anderen hatte er einen Koffer gehalten. Er wollte also länger bleiben und sie hatten sich gefragt wieso. Hierher kam niemand um zu bleiben. Nur sie, die Dörfler, lebten hier. Seit sie geboren waren. Sie aber konnte nicht bleiben. Nicht länger. Das musste er erfahren. Er musste sie mitnehmen. In die Stadt. Fort vom Vater. Der sie ins Gesicht schlug. Wenn das Messer nicht gerade genug ausgerichtet neben dem Brot lag. Oder auch sonst. Der über die Muter kam, die sich nicht wehrte, weil sie schon lange zerbrochen war, nicht mehr übereinanderpaßte.

Andreas Moster, geboren am 18. Dezember 1975 in Bad Bergzabern, lebt und arbeitet in Hamburg als Schriftsteller und Übersetzer. Der Bachmann-Preisträger hat bislang zwei Roman veröffentlicht. “Wir leben hier, seit wir geboren sind” ist sein Debüt, es erschien 2017 bei Eichborn und ist seit dem diesjährigen Frühjahr als Taschenbuch erhältlich. Mit “Kleine Paläste” legte er 2021 nach. Beide Geschichten sollen Mosters eigenwillige Erzählart gemeinsam haben, weswegen ich mir letztere jetzt vorgemerkt habe.

Kommt ein Fremder in ein Tal und alles steht Kopf. Die Idee ist nicht neu. Aber wie sie erzählt wird schon. Träume mischen sich unter das Tagesgeschehen, während sich Gewitter des Nachts grollend am Berghang brechen. Eine Luft reinigen, die aufgesättigt ist mit Abhängigkeit, Übergriffigkeit, Fantasie und Fluchtgedanken.

Die Sonne steht tief über den Gipfeln, und wir setzen uns auf die Mauer, müde vom Tag, müde von der Langeweile, müde von der Rätselhaftigkeit dieses fremden Mannes, der durch unser Dorf geht und Dinge berührt, die keine Bedeutung für uns haben, keinen Sinn, außer da zu sein und es für immer zu bleiben.”

Textzitat Andreas Moster Wir leben hier, seit wir geboren sind S. 47

Er heißt Georg Musiel. Dieser Fremde. Der wegen des Steinbruchs hier ist. Der die Dinge nehmen soll wie sie sind. Sagt ein Generaldirektor. Der genug eigene Probleme im Gepäck hat.

Die Haut ist der Spiegel der Seele, sagt man und seine ist kaputt. An vielen Stellen. So wie dieses Dorf und seine Menschen. Mit ihren Brüchen.

Ihm wollen sie sich beweisen. Die, die hier Verantwortung tragen. Die Herren im Steinbruch. Es geht um Wirtschaftlichkeit. Vielleicht. Darum, wer der Herr im Haus ist. In jedem Fall. Darum, wer sich wie zu benehmen hat und das sich Erziehung mit der flachen Hand oder den Fäusten für Töchter gehört. Wenn es nach ihnen geht. Den Vätern hier.

Und es geht um eben diese Töchter. Die aufbegehren. Grenzen nicht mehr hinnehmen wollen. Um Mütter, die erkennen wo sie eigentlich stehen müssten. Auf welcher Seite. Seit dieser Mann im Dorf ist. Überhaupt ist seitdem nichts mehr wie es sich gehört. Nichts mehr da wo es hingehört.

Ein Aufmarsch. Ein Fest. Ein Ritual. Ein Schrei zerreißt die Stille. Alle schauen zu Boden. 

Was für eine Stimmung. Düster. Beklemmend. Ich vergesse weiter zu atmen. Halte mich an der Hoffnung fest, das doch alles gut werden muss. Moster schafft es, das ich mich beständig frage, ob er seine Geschichte noch weiter zuspitzen wird. Es fühlt sich so an. Als könne sie nicht gut ausgehen. Denn hier ist im besten Fall die Landschaft idyllisch und selbst die hat Vernarbungen. Ihren Bruch. Einen Steinbruch. Der die Quelle ist. Für alles und jetzt versiegt.

Erst nach und nach verstehe ich wer hier zu wem gehört und warum. Das macht er sehr geschickt der Andreas Moster, nicht jedem gibt er gleich einen Namen. Er lässt seine Figuren handeln damit ich begreife und er findet Worte, die mich staunen machen. Seine Ausdrucksweise finde ich nicht nur eigenwillig, sondern großartig. Ehrlich. Anders. Er versteckt so einiges zwischen den Zeilen, wählt eine symbolhafte Art zu erzählen, wie ein Schatzsucher bin ich mir vorgekommen. Seine Sätze waren meine Karte. Es lauert und funkelt hinter ihnen. Viele lese ich mehrfach, möchte zitieren und zitieren. Sie aus dem Zusammenhang reißen, damit sie einzeln und für sich leuchten können. Sie lassen wo sie sind, weil sie sich anfühlen, als würden sie beim Lesen mehr werden. Lange habe ich an diesem schmalen Buch gelesen. Diese Geschichte aufgenommen, die mal wie ein Wachtraum, dann wie ein Alptraum auf mich wirkte. Sie zu erlesen war eine Bereicherung für mich, sie wirkt und klingt nach durch ihre Außergewöhnlichkeit. Auch glaube ich, dass jeder für sich etwas anderes herauslesen wird, das man auch wenn man diese Erzählung ein zweites Mal liest wieder Neues entdecken kann. 

Also nehmt Stock und Rucksack zur Hand und brecht auf in dieses Tal. Es hat ein Gasthaus, dort könnt ihr unterkommen. Aber vergesst nicht wieder zu gehen. Denn ihr könnt hier nicht bleiben  …

 

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