Die Relativitätstheorie machte ihn weltberühmt. Den in Ulm gebürtigen, mit zwei Staatsbürgerschaften ausgestatteten Physiker Albert Einstein. Der als Kind erst im Alter von drei Jahren zu sprechen begann, es in der Schule nicht sehr mit Sprachen, dafür aber mit der Naturwissenschaft hatte. Er forschte über Materie, Raum und Zeit, brachte das Newtonsche Weltbild ins Wanken und war zeitlebens um den Weltfrieden bemüht. Auch wenn er mit einer, wie er sagte, zu leichtfertig gesetzten Unterschrift unter einen Brief an den US Präsidenten Franklin D. Roosevelt, gemeinsam mit Wissenschaftskollegen, ein Projekt auf den Weg brachte, das wir als das Manhattan Projekt kennen und das den Bau der Atombombe zum Ziel hatte. So aufsehenerregend wie sein Leben, so unglaublich ist das, was nach seinem Ableben geschah. Der Pathologe Thomas Harvey stahl nach der Leichenbeschau Einsteins Augen und Gehirn. Tatsächlich wurde hernach der überwiegende Teil von Einsteins Gehirns konserviert und ist bis heute in Chicago im National Museum of Health and Medicine ausgestellt. Einsteins Augen hat man in New York behalten. Was bitte ist das denn für eine Geschicht? Sie gehört selbstredend erzählt und ich finde, sie muss auf Franzobel gewartet haben …
Einsteins Hirn von Franzobel
Albert Einstein war tot und ER hatte sein Gehirn gestohlen. Was war nur in ihn gefahren? In den Pathologen Thomas Harvey. Der Quäker und Vorzeige-Familienvater Harvey, war am Tag der Tage wie gewohnt, in seinem Auto mit hölzerner Seitenverkleidung und Weißwandreifen zum Dienst in die Klinik gefahren, Elvis Presley gurgelte aus dem Radio und heute war des Pathologen Hochzeitstag. Den er diesmal nicht vergessen wollte. Alles war gut. Nein, bestens.
Am Ende des Tages, war der Hochzeitstag vergessen. Denn Einstein war tot und ihm trug man die Autopsie an. Was würde er finden in diesem Mann? Würde man in seinem Körper Spuren davon erkennen können was ihn so besonders gemacht hatte? War Genialität biologisch nachweisbar?
Er, Thomas Harvey, war hier und jetzt, am Seziertisch, ganz allein mit dem Wissenschaftsgenie, zwischen sich und dem Leichnam nur ein weißes Laken, Routinen und kaltes Metall. Das Skalpell in seiner Hand, zitterte wie er bemerkte, da verdunkelte ein Schatten den Türausschnitt …
Franzobel, eigentlich Franz Stefan Griebl, geboren am 01.März 1967 in Vöcklabruck, österreichischer Schriftsteller, studierte Geschichte und Germanistik in Wien, treibt es wieder auf die Spitze. Wieder bedient sich Franzobel eines Erzählkniffs, er setzt einen Erzähler ein, diesmal benamt er ihn. Sam Shepard, seines Zeichens FBI Agent, führt uns berichtend durch das Geschehen. In Franzobels Roman Das Floß der Medusa, der 2017 für den Deutschen Buchpreis (Shortlist) nominiert war, und der im gleichen Jahr den Bayrischen Buchpreis gewann, machte er bereits aus einer wahren Geschichte eine Unerhörte, was mich sehr begeistert hat. Einen Erzähler verwenden, der frech und unerhört formuliert, wie ein Helikopter über dem Geschehen kreist und so gar nicht zu einem historischen Ereigniss passen wollte, das dramatisch und grausam ist, passte genau deshalb für mich perfekt. Franzobel schaffte es so durch Distanz Nähe zu erzeugen und Vergessenes brilliant in Szene zu setzen. Was er uns in seinem aktuellen Roman Einsteins Hirn erzählt, hat ebenfalls verbriefte Wurzeln. 40 Jahre lang tourte der Arzt, der Einsteins Gehirn gestohlen hatte, mit selbigem herum. Da musste man doch am Ende den Verstand verlieren, oder hatte ihn schon zu Beginn verloren …
Der Plot startet im April 1955, in Princeton, das erste McDonald’s Restaurant hat eröffnet, zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kämpfen die Amerikaner in Korea und Albert Einstein liegt im Sterben.
Ausgeschlachtet, das Herz auf der Ablage. Alle Organe in der Waagschale. Dann lag er vor Harvey. Der Grund warum Einstein nicht mehr am Leben war. Seine Aorta, die Lebensverbindung zwischen Herz und Beinen war wie zerfressen. Wegen eines Aneurysmas war Einstein lange zuvor schon behandelt worden. Neun Monate hatten ihm die Ärzte bei der Erstdiagnose prognostiziert, sieben Jahre hatten sie ihm geschenkt. Alles klar also, es gab keinen Anlass jetzt auch noch nach dem Hirn zu sehen, dem Wissenschaftler den Schädel aufzusägen, und doch tat dieser Pathologe wie an Fäden gezogen genau das.
In der Hörbuchfassung, die von Lübbe Audio ungekürzt produziert worden ist, brilliert David Nathan. Die deutsche Synchronstimme von Christian Bale hielt mich 18 Stunden und 25 Minuten lang am Puls des Geschehens und dank Franzobels bildhaftem Erzählstil ist man als Leser:in mittendrin statt nur dabei. Die Lebensbilder die gezeichnet werden sind prall, bunt und aufsättigt mit einem ganz eigenen Humor. Franzobel schöpft dabei aus einer Detailfülle und Vielfalt die verblüfft.
Aufgewachsen ohne jegliches Lob. Vom Vater nicht akzeptiert, mit Stottern geschlagen. Trotzdem studierte er Medizin in Yale. Erkrankte an Tuberkulose. Es folgen ein Sanatoriumsaufenthalt, eine Frau fürs Leben, eine Oberschwester wie ein Feldwebel, ein Krieg am Horizont. Ausgemustert und stattdessen abkommandiert zur Giftgasforschung. Drei Söhne, nach dem Krieg eine Festanstellung in der Pathologie, Probleme in der Ehe, einen imaginären Freund im Gepäck, – et voilà, das Leben des Thomas Harvey in Kurzfassung, bis zu eben jenem Tag im April ’55.
Der schweigsame und hilfsbereite Mediziner Harvey ist Franzobel als Hauptfigur sehr gut gelungen und als Einsteins Hirn zu ihm zu sprechen beginnt, bin ich geneigt ihm zu glauben. Die Geschichte selbst ist ohne Frage schon wegen der Tatsache, dass ein Gehirn auf Reisen geht skurill, das die Tatsache zu wem es einst gehörte u.a. trickreiche Geschäftemacher auf den Plan rufen muss, liegt auf der Hand.
Enthusiasmus und Wahnsinn vermischen sich. Pulsierendes New York in den 50er Jahren, Nabel der Welt. Das Militär bekundet deutlich Interesse an Einsteins Denkapparat. Einstein war zeitlebens Pazifist gewesen, das konnte seinem letzten Willen nicht entsprechen! Erben und Nachlassverwalter begehren auf.
Lust auf einen schrägen Typen und eine abgedrehte Story? Bitte sehr. Der leicht rotzige Titel dieser Geschichte hält was er verspricht. Laut auflachen? Geht hier. Das Absurde der Situation fordert es geradezu heraus. Kopfschütteln gefällig? Funktioniert hier ständig. Franzobels Sprache und Ausdrucksweise – ich finde sie schlicht genial, tun ihr Übriges dazu. Wenn er seine Hauptfigur mit dem weißen Hasen aus “Mein Freund Harvey” vergleicht ist das nicht nur eine Wortspielerei. Das hier ist ein wilder Ritt, ich folge dem weißen Kaninchen und gerate in einen wahren Ereignisstrudel, taste nach der Wahrheit hinter der Fiktion. Höre wieder auf damit und spitze einfach nur die Ohren. Ungehörig, unerhört, von allen guten Geistern verlassen, oder von einem besessen? Es ist kaum zu glauben, nicht zu fassen und doch wahr. Vielleicht.
Hula Hoop und Minirock. 1960 auf der Schwelle in eine neue Zeit, wählen Amerikaner einen neuen Präsidenten. John F Kennedy tritt mit 43 Jahren zur Wahl an gegen Richard Nixon. Die Welt diskutiert über die Kleidung von Jackie Kennedy, als hätte alles andere seine Bedeutung verloren. Thomas Harvey, hat Einsteins Gehirn mittlerweile in Würfel geschnitten, also teilweise, hat immer noch keine Forschungsergebnisse vorzuweisen, ist aber auch nicht von dem Hirn zu trennen. Dafür trennt sich seine Frau von ihm, seine Affäre mit einer Laborantin fliegt auf, er wird erst vom Dienst freigestellt, verliert den Job und sich. Balanciert am Rande eines Nervenzusammenbruchs und wird fünfzig. Heiratet erneut. Scheitert erneut. Beziehung scheinen nicht sein Ding zu sein.
Das Hirn kann nicht bleiben. Das Hirn muss bleiben. Wohin mit dem Hirn? Das Hirn muss weg! Auf jeden Fall.
Zu Gast beim Woodstock-Festival inkl. LSD-Rausch. Landarzt, Gefängnisarzt, zum dritten Mal verheiratet, ich bin inzwischen mit ihm im Jahr 1978 angekommen. Besuche Jazzclubs in New York, führe Gespräche im Todestrakt, lerne die Grundsätze der Thermodynamik. Auf der Suche nach einer Formel, nach einer ganz bestimmten, einer die man Einstein einst gestohlen hatte, geht es nach Moskau.
Verarmt im Trailerpark. Wir nähern uns dem Ende. Der Erzähler der Geschichte, Sam Shepherd, setzt den Schlusspunkt. Ich habe es geahnt.
Fragen nach Schuld und Unschuld, nach Gott und der Welt, nach unseren Abhängigkeiten, nach Rassismus, dem Urknall und allem drum und dran werden gestellt. Es wird schwadroniert und philosophiert, die Quantenphysik bemüht. Am Ende müssen wir uns die Antworten auf die Kernfragen allerdings selbst geben.Vornehmlich die, ob und wie sich Religion und Wissenschaft vertragen.
Wer Freude an detailhaftem Erzählen hat, gern vom Himpelchen aufs Pimpelchen kommt, für den wird diese Geschichte ein Fest sein. Für mich hätte sie in Summe etwas kürzer gefasst sein können. Originell ist sie allemal und das Leben schreibt eh immer die besten Geschichten. Also lasst es drauf ankommen und werft einen Blick in das vielleicht berühmteste Gehirn aller Zeiten …
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