Gentleman über Bord (Herbert Clyde Lewis)

Unstet und rastlos, insolvent. Das gleich zweimal. In der Ära McCarthy landeten seine Texte auf der schwarzen Liste, alkohol- und medikamentenabhängig, ereilte ihn ein Tod durch Herzinfarkt, mit nur einundvierzig Jahren, so die offizielle Sprache. Inoffiziell ist die Rede von Suizid des:

Herbert Clyde Lewis, geboren am 15. August 1909 in New York City, verstorben am 17. Oktober 1950, Sohn russischer Einwanderer. Er schrieb unter anderem für das Time Magazine, war Nachrichtenredakteur bei der New York Harold Tribune und wurde 1948, in der Kategorie beste Originalgeschichte, als Drehbuchautor, gemeinsam mit einem Kollegen, für den Oscar nominiert. Die Zeit und die Buchbranche hatten seine Geschichte(n) vergessen. Da ist er sicher nicht der Einzige, aber mit Sicherheit einer derjenigen, den es wieder zu entdecken lohnt.

1937 erschien, unter dem Original-Titel “Gentleman Overboard“, sein erster von insgesamt vier Romanen. Am 14. März 2023 veröffentlichte, erstmals in deutschen Übersetzung, der mare-Verlag, dem ich an dieser Stelle herzlich für das Besprechungsexemplar danken möchte. Er reiht sich jetzt ein in die schöne Mare-Klassik-Edition, wurde Leinen gebunden und mit einem Schuber ummantelt. Nicht der Gentleman im inneren dieser Geschichte hätte an dieser edlen Ausstattung seine Freude.

Bei mare, das wissen wir,  spielt das Meer nie nur eine Nebenrolle, wo sonst hätte also diese Geschichte im Deutschen verlegt werden können wenn nicht hier? Was mich dann aber überrascht hat, ist die Tatsache, wie aktuell diese Geschichte, die im Meer der Buchveröffentlichungen untergegangen ist, um im nautischen Duktus zu bleiben, heute noch wirkt. Was wohl auch der Übersetzung von Klaus Bonn zu verdanken ist, der den ironisch-lakonischen Ton von Lewis ganz wunderbar abgestaubt und in Szene gesetzt hat, der dem tragischen Helden dieser Geschichte, sechsundachtzig Jahre nachdem er seinem Autor aus der Feder geschlüpft ist, Kontur und Tiefe in unserer Sprache verleiht. 

Als empathischer und genauer Beobachter, umgibt Herbert Clyde Lewis seinen Protagonisten mit einer bunten Schar an Nebenfiguren. Einen Erzähler mit Helikopter-Blick lässt er die Fäden zusammenhalten. Das, und die geschickt eingesetzten Perspektivwechsel wirken stillistisch modern, im Kontrast dazu fühlte ich mich sprachlich wohltuend in die Vergangenheit versetzt. Worum geht es?

Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis

Unser Gentleman, ein Wallstreet Broker namens Henry Preston Standish, besteigt in Honolulu die S.S. Arabella, ein Frachtschiff, das auf seiner Fahrt nach Panama, durch den Kanal, gelegentlich, wenn auch wenige Passagiere an Bord nimmt. Diesmal sind es neun, Mister Standish eingeschlossen.

Mrs. Benson mit ihren vier Kindern, drei Mädels und ein Junge auf dem Weg zu ihrem Ehemann, die Browns ein Missionarsehepaar unterwegs zum Herrn und der dreiundsiebzigährige Farmer und Witwer Nat Adams. Der keinen vernünftigen Grund hat hier zu sein und einer Fernweh-Attacke folgend, seinen Pflug, sein zu Hause in Neuengland, gegen eine Weltreise getauscht hatte. Henry selbst ist fünfunddreißig und seiner Frau, seinen zwei Kindern davongelaufen. In einem Anfall von, er wusste auch nicht so recht was mit ihm los war, irgendwie krankte er an der Langeweile seines Lebens.

Das Meer war ruhig, glatt wie ein Spiegel, einundzwanzig Tage würden sie insgesamt unterwegs sein, acht davon lagen noch vor ihnen. Auch an Tag dreizehn genoß man die Ruhe und Ereignislosigkeit im stillen Ozean, klare Nächte, ganze Galaxien von Sternen, Sonnenuntergänge, aß zu viel, machte Schwimmübungen in einem eigens aus Segeltuch auf Deck aufgebauten Pool, während das Schiff Kurs hielt.

Die Mannschaft spielte, wann immer sie konnte Bridge, man fuhr nur mit halber Last, da hatte man Zeit, ihr Kapitän bastelte derweil in seiner Kajüte an Schiffsmodellen. Einzig der Erste Offizier Mr. Prisk schien sich gern unter die Passagiere zu mischen. Es gab keine Formalitäten, für die Passagiere nichts zu tun.

Ein Ölfleck ist keine Bananenschale, hier bringt er einen Mann zu Fall. Stürzt ihn aus seinem Leben. Henry Preston Standish rutscht auf ihm aus und geht über Bord. Um dreiundzwanzig Minuten nach fünf Uhr am Morgen. Er war ein Frühaufsteher und Frühzubettgeher, hatte seinen Lieblingsplatz auf der Arabella aufgesucht, für den Tag bereits perfekt angekleidet. Nur fünf Meter, in einer Ausbuchtung, stand man hier über der schäumenden Wasserlinie. Selbst als er fiel und seine Uhr die Zeit dieser Welt an Bord anhielt, war er noch ganz Gentleman, er schrie nicht, sondern schämte sich, anderen durch sein Missgeschick in der Folge Aufwand aufbürden zu müssen. So konnte sich niemand zu ihm umdrehen, während er dagegen ankämpfte von der Schiffsschraube erfasst und von ihrem Strudel untergetaucht zu werden, um schließlich fassungslos dem sich immer weiter entfernenden Heck der Arabella nachzuschauen. Als er endlich seine Stimme fand, spielte das Schicksal voller Ironie seine Karten aus. Standishs Sturz in den Pazifik blieb auch deshalb zunächst unbemerkt, weil an Deck zwei Matrosen mit Worten und Messer aneinander geraten waren. In diesem Tumult ging einfach alles unter und Henry Preston Standish verloren. 

Wir hätten Henry heute vielleicht einen Burnout attestiert, seinerzeit hatte man für seinen Zustand noch keinen Begriff in der Diagnoseschublade. Man darf doch auch der Normalität mal überdrüssig sein, ausbrechen und vielleicht wieder zurückkehren. Wer sagt, dass das nicht so ist? Wer bestimmt was für wen “normal” ist?

Gestrig und so gegenwärtig. Gefangen in Zwängen, geprägt von einer Erziehung, von einem Elternhaus, in dem es als Greuel verstanden wurde sich aufzudrängen und sei es nur durch eine laute Stimme.

Hoffnung. Sie keimt auf und stirbt zuletzt.

In der Nähe des Todes das eigene Leben im Rückspiegel sehen, die Menschen, Tun und Handeln, feststellen wie sehr man doch nur am Leben bleiben will. Eiskalte Angst spüren es zu verlieren.

Lügen, Gewissensbisse, Vorwürfe und Rückschlüsse. Die falschen. Vielleicht. Deutungen, die zu Rechtfertigungen werden.

Es gibt Geschichten die möchte man am liebsten in einem Rutsch lesen. Diese hier ist eine solche. Mit ihrem windstillen Ozean hat sie mich aus einer Leseflaute befreit. Mich nachdenklich gemacht und Henry habe ich so sehr gewünscht sie mögen ihn retten! Ich wollte für ihn schreien, rufen und strampeln. Euch möchte ich aber nicht mehr verraten von dem was ihm im Kopf herum geht. Was andere über ihn denken, wo er und sie seinen Platz sehen. Was am Ende geschieht.

Die Willkür von Strömung und Gezeiten. Die Zeit, ein ewiger Gegner. Das Meer, hat alles in der Hand. Das Meer. Gibt nichts aus der Hand.

Diese unglücklichen Umstände und wie sie sich hier verketten! Die Zwangsläufigkeit der Ereignisse, im Gegensatz dazu die Banalität eines Alltags, der festen Routinen folgt, und der es nicht zulässt zu bemerken was da gerade geschehen war. Der Mut der Verzweiflung, das Fügen ins Unvermeidliche. Alles das fängt Lewis so meisterlich ein, dass ich am liebsten stehend applaudiert hätte, würde er es denn hören können.

Hier ist ein Meister der Verknappung am Werk und ich teile die Meinung der Rezensenten aus dem Veröffentlichungsjahr des Originaltextes nicht, dass hier ein Meisterwerk hätte entstehen können, wäre Lewis etwas ausausführlicher rangegangen. Genau diese Reduziertheit auf das Wesentliche ließ mich rein gar nichts vermissen. Charaktere spiegeln sich in der Meeresoberfläche wie Wolken und die Untiefen des Ozeans, stehen Spalier, während Überzeugungen, Zweifel und Vermissen auf seinen Grund sinken.

Eine große kleine Geschichte, der ich noch viele begeisterte Leser:innen wünsche und viel Erfolg auf ihrer Wiederentdeckungstournee durch die deutschen Buchläden. Stecht in See, aber hütet euch vor Ölflecken in den stillen Ecken …

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