Auf See (Theresia Enzensberger)

Klimawandel, Energiekrisen, Vulkanausbrüche, Waldbrände, Dürren, Hungersnöte. Dieses Jahr fordert uns nach einer Pandemie mit Problemstellungen heraus, auf die wir vielfach keine Antworten haben. Die Welt wie wir sie kennen verändert sich dramatisch und in einer Geschwindigkeit die Angst macht. Wohlstand und Komfort sind bedroht oder bereits verloren, wie gemacht ist dieser Boden für extremitische Gruppierungen aller couleur. Rund um den Globus wackeln Demokratien die einmal als stabil galten. Dem Kern-Szenario dieses Romans, der z.B. Zeltstädte in Berlin als Konsequenz auf überteurten Wohnraum im Erzählgepäck hat, konnte ich gewisse Paralellen zu aktuellem Geschehen schon einmal nicht absprechen, auch wenn seine Autorin den Ansatz gewählt hat es dystopisch zu überspitzen. Zumindest zu Beginn des Romans. Vielleicht hatte ihr das eine Nominierung für die diesjährige Longlist des Deutschen Buchpreises eingebracht, zumindest mein Interesse hatte sie damit geweckt …

Auf See von Theresia Enzensberger

Seestadt. In der Ostsee. Ein Projekt ist kein Zuhause, sagt Yada und sie muss es wissen, sie lebt hier, ist aber nie angekommen, im Versuch sich anzupassen gescheitert. Ein Scheitern ist immer auch ein Neuanfang würde ihr Vater sagen. Klingt einfach – ist schwierig, wenn sich alles immer nur im Kreis dreht. Ständig wartend, auf welchen Tag, auf was auch immer. Dabei waren die Pläne der Wissenschaftler, darunter ihr Vater, die sich hatten lossagen wollen, vom Festland, von tradierten Lebensweisen, ehrgeizig gewesen. In fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Besiedelung, hatte man auf See autark leben wollen, selbst Lebensmittel produzieren, den eigenen Müll wiederverwertend, autonom und unabhängig von jeder Regierung, die sich auf dem deutschen Festland dazu berufen fühlen würde die Macht zu ergreifen. Als sie geflohen waren, hatte dort das Chaos regiert. So ihr Vater.

Gerettet hatte er sie alle mit dem Umzug, gerade noch rechtzeitig, wie er nicht müde wurde zu betonen. Mit einem Umzug auf eine Insel aus Eisen und Stahl, hinter einen Wellenbrecher und mit jeder Menge Windräder, die ihre bienenstockartigen Behausungen mit Energie versorgten. Sieben Jahre alt war Yada damals, inzwischen sind zehn Jahre vergangen und sie hat Zweifel. An der Idee der Seestadt, ihrem Leben, sieht ihren Vater kaum noch. 

Außer ihr gab es keine weiteren Kinder oder Jungendliche hier, allein unter Erwachsenen war sie als Halbwaise mit ihrer Sumpfschildkröte aufgewachsen. Trotz oder wegen fehlender Kontakte zu Gleichaltrigen und einer sich kümmernden Mutter steckte Yada voll rebellischer Ideen.

Entzug, unsichtbare Grenzen, Parallelwelten und Ausbeutung. Ein neurologischer Medikamentencocktail sollte Yada schützen. So der Vater. Vor der Krankheit ihrer Mutter, die deswegen viel zu früh gestorben war. Er verordnet ihn ihr als “notwendige Vitamine”. In Wirklichkeit enthält er u.a. Lithium, einen Dopaminaufnahmehemmer und ein starkes Hypnotikum, als Yada entdeckt wie ihr Gehirn damit jahrelang manipuliert wurde, warum sie im Schlaf wandelt, sich dabei verletzt, kann sie nur noch an eines denken: Flucht.

Berlin. Helena 35 Jahre alt Künstlerin, Videoperformerin, Sektengründerin und selbsternannter Guru, war mir Yada noch sympathisch, so mochte ich Enzensbergers zweite Hauptfigur auf Anhieb nicht leiden. So gar nicht und auch im Verlauf der Geschichte nicht. Ein wacher Verstand versteckt sich hinter einer selbstgefälligen Fassade, das immerhin gestehe ich ihr zu. Die Autorin beginnt mit ihr eine weitere Erzählebene, die größtenteils in einem Berlin der Zukunft spielt.

Menschen leben dort in ihren Autos, oder auf der Straße, denn Wohnraum ist nicht nur knapp, sondern nicht mehr zu bezahlen, seit Immobilienbesitzer zu Haien wurden, kein Staat, kein Verband verpflichtet sie mehr über aufgerufene Mietraten Rechenschaft abzulegen. Seitdem gibt es eine Zeltstadt im Berliner Tiergarten, die aus allen Nähten platzt und Gurus wie diese Helena, die ihre Kunst an Menschen ausprobieren, offenbar ohne Skrupel, oder einfach nur nicht nachdenkend.

Noch zwei Monate bis zu Yadas Volljährigkeit, voller Fluchtpläne und Fragen, was war wirklich mit ihrer Mutter geschehen, finden zwei Erzählstränge zueinander, die fehlenden Teile des Puzzles liegen alle auf dem Tisch. Sie beginnen sich zu fügen. Das Inhaltsbild rundet sich. Ich schöpfe Verdacht …

Theresia Enzensberger, geboren 1986 in München, studierte Film und Filmwissenschaft in New York, lebt heute in Berlin und schreibt als freie Autorin und Journalistin. 2017 erschien ihr Debütroman Blaupause, der ihr eine Nominierung für den Aspekte-Literaturpreis einbrachte, mit Auf See legt sie jetzt ihren noch druckfrischen zweiten Roman vor und wieder erschreibt sie sich eine Literaturpreis-Nominierung.

Ich mag Dystopien, die Verquickung mit bereits gegenwärtigen gesellschaftlichen Druckpunkten klang verlockend, aber ich bin nicht warm geworden mit der Entwicklung des Plots und der Grundidee. Was glaube ich vornehmlich an den Figuren lag, aber auch an den, unter der Überschrift “Archiv” eingestreuten Erzählschnipseln über die See und aus Übersee. Es hat Fragmente bunt wie ein Blumenstrauß von Scientology-Aktivitäten über Darwin und Hemingway bis hin zu Off-Shore-Windpark-Projekten, die für mich den Roman nicht abgerundet, sondern meinen Lesefluss immer wieder unterbrochen und damit gestört haben. Ist das vielleicht Kunst? Ein Projekt von Helena? Fragte ich mich und wie verbindet sich das mit dem Erzählkern? Kann das weg? Oder habe ich einfach nur nicht verstanden was das soll? Etwas überlesen, überhört? Ich mochte es am Ende dann nicht mehr für mich klären, wo ich da evtl. gedanklich falsch abgebogen bin. Für mich ist Enzensberger stark gestartet, mit ihrer dystopischen Plot-Anlage hat sie viele Möglichkeiten geboten, dann endet sie aber irgendwie auch überstürzt und reduziert auf ein für mich noch dazu nicht besonders originelles Familiendrama.

Auch das Hinundhergespringe zwischen den beiden gewählten Erzählebenen empfand ich als wenig bereichernd, es klemmt für mich, bis die Fäden sich berühren und klar wird warum es sie überhaupt gibt.

Sprachlich modern und klar, verwendet Enzensberger Adjektive wie “heteronormativ” selbstverständlich, Begriffe wie Agonie fallen aber in einem Zusammenhang der für mich fehl am Platz wirkte und auch sonst ist der Text sehr verliebt in Fremdwörter. Zu ihrem Weltenbau passt das, zum intelektuellen Überfliegertum ihrer erzählenden jugendlichen Heldin auch, aber meins war das nicht. Ich fühlte mich stellenweise belehrt und auf Distanz gehalten, fand ihrer Leitfigur spricht das die Glaubwürdigkeit ab, so abgeklärt wie sie daher kommt. Der Erzählstrang um Künstlerin Helena nervte mich sogar, was dann das finale Killerkriterium für mich gewesen ist. Was für eine Figur, kapriziös und sich einen Dreck um andere scherend. 

Wer Auf See nicht lesen möchte, der kann auch hören, was ich in diesem Fall allerdings nicht uneingeschränkt empfehle.Theresia Enzensberger hat sich mit der Idee ihren Roman selbst einzulesen aus meiner Sicht keinen Gefallen getan. Ich konnte ihr nicht gut zuhören, so abgehackt kommt ihr Text bei mir an. Ihr bei einem Live-Vortrag face to face zu folgen mag da anders sein, für diese vollständige Hörbuch-Lesung hätte ein geübter Hörbuchsprecher oder eine Sprecherin deutlich mehr heraus geholt. Schade, um die vertane Chance mit und durch das Medium Hörbuch weitere Facetten des Textes zu zeigen und/oder zu unterstreichen. Das es am Ende für eine Shortlist Nominierung des Deutschen Buchpreises nicht gereicht hat, ist für mich konsequent und nachvollziehbar.

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