Komisch ist das manchmal, da bin ich auf Bücher abonniert, die auf den ersten Blick vieles gemeinsam haben und dann auch wieder nichts. Gerade war ich noch unterwegs Über die See mit Mariette Navarro, Das Wasser des Sees ist niemals süß erklärte mir Giulia Caminito, Theresa Enzensbergers Auf See habe ich eben beendet und jetzt also Zur See von Dörte Hansen. Was immer das mit der See und mir bedeuten mag. Ist das der Wassermann in mir der da raus will? What ever. Dieser Roman hier hat es verdient für sich allein zu stehen, hört mal …
Zur See von Dörte Hansen
Vielleicht gerade jetzt, irgendwo auf einer Insel in der Nordsee. Vielleicht bei Jütland …
Rykmer Sander ist ein Seemann, ein Fährmann, ein ehemaliger Kapitän zur See, ein Trinker. Einer, dem die Mutter, Hanne, ein Versprechen abgenommen hat, an Tagen, an denen er im Dienst ist nur so viel zu trinken, dass er den Poller noch trifft. Am Anleger. Damit er den Job behält. Sie ist eine Mutter, die ihren ältesten Sohn an freien Tagen trinken lässt bis er nur noch nach Hause kriechen kann. Vorbei am alten vermosten Knochenzaun aus Walzähnen, dahin wo ihn sein innerer Klabautermann täglich mitnimmt.
Er hat zuviel gesehen auf seinen Fahrten, ihr Rykmer, sie weiß das, hat zuviel gefroren, kann zu wenig vergessen. Sie versteht das. Dieser weißen Wand, der einen großen Welle, die die meisten Seeleute nicht überleben, war er begegnet. Da draußen. Als er noch das Kommando und die Verantwortung hatte.
Seine Mutter holt ihn ab, jeden Abend an der Hafenkante, mit dem Wagen, dem das Salz aus der Luft schon den Lack abgefressen hat. Zuverlässig wie ein Uhrwerk. Weil sie eine Inselfrau ist, eine Hüterin von Seemannskisten, die alles enthalten was ihre Männer zur See ihr hinterlassen haben.
Kirchenglocken läuten am Meeresgrund. Nur wenige können sie hören. Manche bevor ein Sturm kommt. Rykmer Sander immer. Er weiß, dass die Gleichmut der See ein jähes Ende finden kann, spürt wie er sagt, wenn ein Sturm nicht nur spielen will, wenn man ihn persönlich nehmen muss.
Er kennt sie noch alle, die Geschichten von den Walfängern, den Grönlandfahrern, die noch richtig frieren gelernt haben. Als Beruf. Er, der als Kombüsenjunge angefangen hat, der bis zur Kommandobrücke auf- und dann saufend wieder abgestiegen ist. Weil er dem Schrecken direkt ins Gesicht gesehen hat.
Insel Pastor Lehmann hat da ganz andere Problemstellungen zu bewältigen. Seine Seelensnacks sind bei Touristen ein Hit, er ist gebucht wie nie, aber sie will jetzt weg. Seine Frau. Nach dreißig Ehejahren. Auf’s Festland. Nicht weg von ihm. Aha, er joggt jeden Morgen, auch um das zu verstehen, immer dicht am Tagesrand entlang, wie das geht hat er hier gelernt. Auf seiner Insel. Die ihm heute die kalte Schulter zeigt und trotzdem liebt er sie. Jede Muschel auf ihrem Strand. Leidenschaftlich sowie seine Aufgabe, die für ihn Berufung ist.
Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, Autorin und Journalistin, schrieb sich 2015 mit ihrem ersten Roman “Altes Land” ganz oben auf die Bestsellerlisten und die Lesewunschzettel. 2018 folgte ihr zweiter “Mittagsstunde“, dessen Verfilmung gerade in den Kinos läuft. Von mir mit großer Sehnsucht erwartet, erschien endlich ein neuer Roman von ihr! Verliebt in Altes Land und begeistert von Mittagsstunde fahre ich jetzt also mit ihr Zur See. Respektive verbleibe auf einer von ihr umtosten Nordseeinsel.
Dörte Hansen hat es wieder getan. Mich umgarnt, mir leise zugeflüstert, nur um dann kurz darauf die Stimme zu erheben. Die Windstöße, die sich in ihrem aktuellen Roman zwischen den Sätzen drehen, entweichen dann um mich frontal zu erwischen. Es braucht nicht viel bei ihr und ich bin verliebt. Hals über Kopf diesmal und schon nach den ersten Sätzen.
So wie nur der Herbst dieses besondere Licht kann, kann Hansen Atmosphäre. Sie bringt alle Glöckchen in mir zum klingen. Zeichnet eine ganze Welt mit einer Handvoll Worte. Sie schreibt nie nur von Figuren, bei ihr sind es allesamt Menschen die sie zeichnet, häufig sind sie wortkarg, haben Schrammen vom Leben und ich möchte mir diesmal dringend und sofort im alten Kapitänshaus bei Hanne Sander ein Zimmer nehmen.
Menschen mit Alltag treffen hier auf Menschen mit Urlaub. Eske Sander, Tochter, Schwester zweier Brüder, ist die, die Heavy Metal liebt, eine Tattookünstlerin auf dem Festland und das Schwimmen in der eiskalten See, wenn sie nicht ihres Berufs wegen die letzten Seefahrer und Seemannsfrauen der Insel im Altenheim pflegt. Ihr Bruder Henrik, der schon als Kind immer barfuß ging ist ein angesagter Künstler geworden. Er sammelt Treibholz, Treibgut und Muscheln, baut gespensterhafte Figuren daraus.
Der Vater der Sander-Kinder, Jens ist gegangen. Vor Jahren, so um die zwanzig müssen es sein, hat abgeschlossen mit der Seefahrt und der Wut seiner Frau Hanne, die das Warten auf ihn die Geduld verlieren ließ. Mit ihm. Er lebt jetzt von Frühjahr bis Herbst in einem Stelzenhaus inmitten von Salzwiesen, als Vogelwart auf einem Stück Driftland das seit sechzig Jahren menschenfrei ist. Ein Mann, der zwei Söhne hat und eine Tochter, der deshalb aber noch kein Vater ist. Aufbruch kann Befreiung sein, aber wehe dem Vermissen, wenn es einen einholt.
Tradition und Ahnen. Ferien, Entschleunigung und alle Wetter. Beach-Baristas, Pferdekutschen und T-Shirts mit Möwen-Print. Nie hab’ ich so gern von schwebendem Staub und ungeputzten Fenstern gehört, von angeleinten Drachen die Seevögel jagen, einem gestrandeten Pottwal und einem Körper auf dem beinahe kein weiteres Tattoo mehr Platz hat. Von Leben, die man auch hätte führen können. Vielleicht.
Was hat mir das gut gefallen, Frau Hansen, insgesamt und überhaupt, und ganz generell und wenn Hanne Sander sagt《Der Glaube ist ein krankes Kind, die Liebe ist ein Biest und die Hoffnung ist nicht totzukriegen.》erst recht.
Muss ich mehr sagen? So hören sich Lieblingsbücher an, so Geschichten, die in Herzen vor Anker gehen. Was für eine Stimmung sie da gezaubert die Dörte Hansen hat! Eigenwillig im Ton ist ihr Text durchgängig von einer ganz feinen Melancholie durchzogen und von vergangenem Schrecken. Nordisch klar und so szenisch, das in mir eine ganze Flut an Bildern anbrandet. Wie genau sie beobachtet, wie passgenau sie beschreibt was sie da wahrnimmt! Man findet kaum einen Dialog in Zur See und trotzdem ist alles gesagt. Stilistisch hat mich das so dermaßen abgeholt, auf jede kommende Silbe habe ich mich gefreut! Auch wegen ihr:
Nina Hoss, geboren 1975 in Stuttgart, liest in rund 7 Stunden die ungekürzte Hörbuch-Fassung ein, die bei Random House Audio erschienen ist. Als Schauspielerin ist sie mir keine Unbekannte, unvergessen ihre Rolle als Rosemarie Nitribitt in Bernd Eichingers Film von 1996 Das Mädchen Rosemarie. Im Hörbuch habe ich ihre Stimme zum ersten Mal im Ohr und ich war ein wenig in Sorge. Ist sie doch gebürtige Schwäbin und soll es mit nordischer Klarheit aufnehmen? Und die wunderbare Hannelore Hoger las die ersten beiden Romane von Dörte Hansen so grandios ein, das die Messlatte sehr hoch aufliegt. Kann Hoss da rankommen?
Oh ja, und wie! Sie wählt eine etwas tiefere, manchmal raue, manchmal sanfte Stimmlage für Hansens Geschichte, die sich wie ein Grollen aufbaut, die sanft ist und alles verspricht wohlwissend, dass das Meer nichts halten kann. Hoss ist eine echte Traumbesetzung für diesen Stoff, diesen Text von Hansen. Wie ein Strudel hat sie mich immer tiefer hineingezogen um mich nicht wieder loszulassen, bis zum letzten ausgesprochenen Ton.
Klitschnass, durchgefroren und mit vom Salz starrem Haar stehe ich jetzt da. Allein mit mir und meinem Meerweh und weiß noch immer nicht wie man das macht, richtig frieren. Nichts kann man halten was nicht zu halten ist. Mag es noch so wahrhaftig sein. Längst gelten alte Traditionen als überholt, rüsten sich Inselbewohner für eine neue Zeit, an der nicht alle teilhaben wollen. Einzig sie ist noch immer da, die See, rau und ungestüm wirft sie sich an Land und auch wer rettungslos verliebt ist in sie, den liebt sie nicht zurück, schreibt Dörte Hansen und setzt einen Schlusspunkt der mich zum Weinen gebracht hat, das hatte ich lange nicht. Erwartet alles und sie gibt Euch mehr! DANKE für diese Geschichte! Sie ist unfassbar wunderbar! Hat mich aufgewühlt wie der Wind die See und dafür lieb’ ich sie …
Mein Dank geht an den Verlag Random House Audio für das Besprechungsexemplar.
Liebe Dorothee, das freut mich sehr! Ich bin sehr gespannt was Du nach diesem Hörerlebnis berichten wirst. Gute Erholung und gut zu wissen, dass es einen Hafen gibt, an dem ich vor Anker gehen kann. LG von Petra
Liebe Petra!
Dank Deiner Rezension ist das Hörbuch sofort auf meiner Merkliste von Audible gelandet! Am 20.10. bekomme ich mein neues Guthaben!
Für Deine “Meersehnsucht” weißt Du ja: Ihr seid herzlich willkommen in Kiel!
Liebe Grüße, diesmal vom Starnberger See – Dorothee