Der Gedichtekalender 2023 (Kröner Edition)

Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon wieder Zeit für einen neuen Kalender? Meist ist es erst August, da drängeln bei mir bereits die ersten Termine für das kommende Jahr herein. Dann suche ich nach dem passenden Kalender und mir wird bewusst, manchmal wehmütig, wieviel Zeit im angebrochenen Jahr schon verstrichen ist. Neben den praktischen Alltagshelfern an Termin- und Eintragkalendern, ja da bin ich tatsächlich noch recht “old school”, benutze sie immer noch, in der Furcht einmal ohne ausreichende Akkuladung oder PC-Anschluß dazustehen und damit ohne meine privaten und dienstlichen Termine, gönne ich mir auch immer einen schönen Wandkalender. Manchmal auch zwei. Aber mindestens einen mit Gedichten. Das muss!

Ab September begebe ich mich also alljährlich auf die Suche nach Neuerscheinungen unter den Lyrikkalendern und nach einem schönen Exemplar. In diesem Jahr bin ich über eine besonders schön gestaltete, schmucke Ausgabe gestolpert und die Idee, die dahinter steckt, möchte ich hier gerne mit Euch teilen.

Ich liebe eine schöne Handschrift, dabei muss sie gar nicht leserlich sein. Charakter braucht sie und Schwung. Beides vereint der Herausgeber Hubert Klöpfer in der seinen. In der KRÖNEREDITIONKLÖPFER ist so, mit und durch ihn, Der Gedichtekalender für das Jahr 2023 entstanden.

Zehn namhafte Paten wurden beteiligt, darunter der Schauspieler Ulrich Tukur, die Autor:innen Thea Dorn und Gert Ueding haben Lieblingsgedichte ausgewählt, zwei an der Zahl für jeden Monat und Hubert Klöpfer hat sie von Hand auf die Kalenderblätter geschrieben. Abgedruckt wurden sie auf edlem Munken Pure Papier, einem Papier mit einer herrlichen Haptik, dafür sorgt u.a. eine hohe Grammatur, sanft abgetönt und sehr natürlich wirken die Seiten und sie nehmen satt Klöpfers Tintenschwünge auf. Gedruckt hat die renommierte italienische Druckerei Grafiche Busti Srl. Verona.

Um Euch ein Beispiel zu geben habe ich nachfolgend ein Gedicht und Kalenderblatt ausgesucht und dieses lyrische Sahneschnittchen einmal abfotografiert, unterhalb des Fotos findet Ihr den Text in Klarschrift:

Gelassenheit

Seit ich mich der Zeit ergeben,
fühl ich etwas in mir leben,
warme, wundervolle Ruh'.

Seit ich scherze unumwunden
mit den Tagen, mit den Stunden,
Schließen meine Klagen zu.

Und ich bin der Bürd' entladen,
meiner Schulden, die mir schaden,
durch ein unverblümtes Wort:

Zeit ist Zeit, sie mag entschlafen,
immer findet sie als braven
Menschen mich am alten Ort.

Robert Walser, Sämtliche Werke in 
Einzelausgaben, (c) Suhrkamp Verlag

Zusammengefasst auf einer Seite am Kalenderende hat man alle Gedichte ebenfalls in Druckbuchstabend auf einen Blick abgedruckt, sollte man das eine oder andere Wort zuvor nicht korrekt entziffert haben, kommt hier die Klarstellung. Auch welcher Pate, welche Patin für welches Gedicht steht, ist hier nachzulesen.

Die Jahreszeiten spiegeln sich in diesen Versen ebenso wie die Gefühlswelten ihrer Dichter:innen und eine recht illustere Gesellschaft ist versammelt. Große Namen wie Kurt Tucholsky, Friedrich Hölderin, Eduard Mörike, Theodor Fontane, Heinrich Heine, Theodor Storm oder auch Rose Ausländer, Marie Luise Kaschnitz finden hier Platz neben neuem und bislang noch Unveröffentlichtem, von z.B. Matthias Politycki, den ihr vielleicht so wie ich, von seinen Romanen her kennt. Dichter hingegen wie Georg Trakl oder Ernst Jandl waren mir noch völlig unbekannt, es macht mir immer Freude so auf für mich Neues gestupst zu werden, oft dient es mir als Einstieg in das Werk und Schaffen von Poeten. Robert Walsers Gedicht Gelassenheit, das auf dem Oktoberblatt 2023 abgedruckt ist, hat mir einen Autor aufgeblättert, mit dem ich mich mehr beschäftigen möchte. Allein dafür liebe ich diese Gedichtesammlung in Kalenderform, die es mir erlaubt mindestens zweimal im Monat kurz innezuhalten und die kommenden Tage mit einer inspirirenden Ouvertüre zu beginnen, meine Augen einen Moment ausruhen zu lassen auf den Flügeln dieser Worte, die jemand für uns noch mit Hand geschrieben hat.

Also blättert fleißig um und eilt 2023 voraus, ich gestehe, ich habe das tatsächlich getan, aber nur um mich im nächsten Jahr bei jedem gewendeten Blatt auf das nächste wunderschöne Gedicht zu freuen.

Oder beschenkt eine(n) Literatur- oder Lyrik-Freund:in zu Weihnachten oder Euch selbst. In jedem Fall ist das dann eine besondere Wertschätzung die ohne weitere Worte auskommt, so viele schöne bindet sie bereits zwischen ihren Seiten. Wortkunstwerke wie dieses hier von Georg Trakl:

Verklärter Herbst

Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht -
Das geht in Ruh und Schweigen unter.

Georg Trakl, Das dichterische Werk, 
(c) Deutscher Taschenbuch Verlag

Mein Dank geht an die liebe Birgit Böllinger und den Kröner Verlag für dieses Besprechungsexemplar.

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