“Vielleicht verraten uns die Toten, wenn sie uns verlassen, aber auch wir verraten sie, um zu leben. “
Textzitat Andrés Barba Die leuchtende Repubilk
Im Jahr 2005 wurde ein polnischer Dokumentar-Kurzfilm von 35 Minuten Länge mit dem Titel The Children of Leningradsky für den Oscar nominiert. Am Ende gewann die begehrte Trophäe zwar ein Anderer und die Regisseurin Hanna Polak ging mit ihrem Team leer aus. Einen Mann berührte sie jedoch mit dem Gezeigten so sehr, dass die von ihr interviewten, obdachlosen und klebstoffschnüffelnden Kinder, die sich prosituieren um ihr Auskommen in bitterer Armut zu finanzieren, die vor aller Augen in einem Moskauer U-Bahnhof leben, ihn zu einem Roman inspirierten. Die Rede ist von dem spanischen Schriftsteller Andrés Barba, der in seiner Geschichte Kindern eine ganz besondere Rolle zuweist, und dem, für Literaturkritiker, damit 2017 sein wichtigster Roman gelungen ist. Termiten, können selbst die größten Bäume zu Fall bringen, erwartet das Unerwartete, hier wächst es, bis Anarchie entsteht …
“Das Grün des Urwalds ist die Farbe des Todes. Nicht das Weiß, nicht das Schwarz. Das alles verschlingende Grün, die dichte, durstige Masse, wirr, erdrückend und mächtig, in der die Schwachen die Starken erhalten, die Großen den Kleinen das Licht wegnehmen und nur das Mikroskopische, das Winzige, die Riesen ins Wanken bringen kann.”
Textzitat Andrés Barba Die leuchtende Republik
Andrés Barba wurde 1975 in Madrid geboren, hat einen Abschluss in Philosophie, arbeitet als Autor und Übersetzer, und wurde für seinen bereits 2017 erschienenen Roman »Républica luminosa«, (»Die leuchtende Republik«), mit dem renommierten spanischen Literaturpreis Premio Herralde de Novela ausgezeichnet.
Das britische Literaturmagazin Granta’s rechnet Barba zu den “zehn besten zeitgenössischen Schriftstellern Spaniens“. Susanne Lange hat diesen Text für ihn und den Luchterhand Verlag ins Deutsche übertragen, 20 Kolleg:innen von ihr übersetzten den international gefeierten Roman in ihre Landessprachen. Um Stimmen wie seine geht es, wenn die Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr ihren Gast Spanien begrüßt, der seinen Auftritt unter das Motto “Sprühende Kreativität” gestellt hat.
Den Roman, um den es in diesem Beitrag gehen soll, verortet der Autor in der fiktiven Stadt San Cristóbal, am Ufer des Flusses Eré. Topografie und Szenerie des Romans ähneln der Gegend um die zweitgrößte Stadt der Provinz Misiones, namens Posada im argentinischen Mesopotamien, die Barba auch bereist hat. Die rund 280.000 Einwohner Posadas leben im Regenwald am Südufer des Río Paraná, der Argentinien zu Paraguay begrenzt.
“Fast alle Welt bekommt, was sie verdient, und böse Vorzeichen gibt es. Und wie es sie gibt.”
Textzitat Andrés Barba Die leuchtende Republik
Die leuchtende Republik von Andrés Barba
13. April 1993, San Cristóbal. Auf einer Landstraße. Ihr Umzugstag.
Alles war so schnell gegangen. Er hatte nicht mehr bremsen können. Der wilde Hund war ihnen ins Auto gelaufen und lag jetzt schwer verletzt vor ihnen. Maia hatte darauf bestanden ihn zu einem Tierarzt zu bringen, hatte ihn auf dem Schoß gehalten, das Blut des winselnden Tieres hatte ihre Hose rasch rot gefärbt. Die Hündin, sie tauften sie Moira, wurde ihre und sollte am Ende noch viele in ihrer Familie überleben. Das hatten sie damals nicht wissen können, genauso wenig wie sie auch nur hatten ahnen können, was Monate danach in einem Supermarkt ihrer Stadt passieren sollte …
Nach einem spontanen Heiratsantrag, war er mit der Frau seines Herzens und ihrer neunjährigen Tochter, die Maia heißt, wie seine Partnerin, und die er nur Mädchen nannte, in die Heimatstadt seiner Frau umgezogen. San Cristóbal. Hier war es heiß, um die Mittagszeit schon so lähmend, das alle Geschäftigkeit des frühen Morgens, die hier um 6 Uhr begann, spätestens dann zum Erliegen kam. Der Dschungel rückte der Stadt ebenso dicht auf, wie die anhaltende Schwüle, die von häufigen Regenfällen befeuert wurde. Man lebte in bescheidenem Wohlstand, der sich auf den Anbau von Tee und Zitrusfrüchten gründete …
Von Schmutz bedeckt, choreografierten sie Diebstähle. Verwarfen Opfer. Wie aus dem Nichts waren sie damals aufgetaucht. Einzeln und tröpfelnd, hatten gebettelt um ein paar Münzen. Am Ende waren es 32 verwahrloste Kinder ohne Obdach gewesen, deren Sprache hier niemand verstand. Erst hatte man sie für eine Fremdsprache gehalten, dann stellte man fest, dass die Kinder sich untereinander in einer ihnen eigenen Geheimsprache unterhielten. Als harmlos, wenn auch lästig hatte man sie angesehen, ihr Auftauchen im Straßenbild nicht weiter beachtet, bis es viele von ihren wurden, die herumstreunten, arglosen Passanten auflauerten, ihren Kindern Angst machten. Rückblickend, nach dem Blutbad, erinnerten sich einige der Bürger San Cristóbals an Traumbilder, die sie jetzt als Vorahnungen einordneten. Jetzt, wo es zu spät war. Nach einem Angriff eben dieser Kinder, bei dem es Tote gegeben hat. Die Kinder verschwanden danach, so wie sie zuvor Nacht für Nacht verschwunden waren, niemand wusste wohin, alle dachten es musste der Dschungel sein, der sie aufnahm und vor ihnen verbarg. Jegliche Suche schlug fehl. Die Bande blieb verschwunden.
Es war aber nicht vorbei. Kinder, nicht wie unsere Kinder. Alles beginnt mit ihnen, alles endet mit ihnen. Gibt es so etwas wie Telepathie? Nach dem die 32 verschwunden waren, begannen die eigenen Kinder sich merkwürdig zu verhalten, wurden ertappt mit dem Ohr am Boden, als lauschten sie dem Herannahen eines Zuges. Dann verschwanden reihum drei von ihnen spurlos. Immer in der Nacht. Panik kam auf bei Eltern und Verantwortlichen …
Ich war sehr gespannt auf diesen Roman aus dem Reisegepäck der Spanier, die mich mit dem Versprechen einer außergewöhnlichen Prosa angelockt haben und wurde nicht enttäuscht. Barba schafft es von Beginn an eine unterschwellige Spannung zu erzeugen und zu halten, die mich kribbelig gemacht hat, die ich als geradezu hypnotisch empfunden habe, ich folgte dem weiteren Geschehen wie in Trance. Seine schön ausbalancierten Sätze flogen mir dabei nur so um die Ohren.
Technisch lässt Andrés Barba den Leiter der Sozialbehörde seines San Cristóbals als Augenzeuge erzählen. Mit dem Abstand von 22 Jahren. Rückblickend. Von Anfang an. Von sich, seiner Wahrnehmung, seiner Wahrheit. Denn mehr hat er nicht. Sagt er. Mir gibt es nicht. Wissen wir.
Eine Ahnung beschleicht mich, unser Erzähler stand damals nicht nur am Rand der Szene, denn bis heute kämpft er, mit inneren Bildern, seinem Handeln, mit dem was geschah, ich eile durch die Kapitel, stoße auf eine geheime Stadt, eine unterirdische Kathedrale aus Licht, dass sich in unzähligen Glasscherben bricht, magisch und beängstigend zugleich …
Diese nüchterne Sachlichkeit, das Unheilverheißende und das Analytische Erzählen, ist das mir eine Mordsgänsehaut machte. Barba lässt seine Hauptfigur intensiv reflektieren und um die Frage kreisen, ob man hätte verhindern können, an welcher Stelle man die Ereignisse noch hätte drehen können. Wenn man es denn gewollt hätte.
Diese Stimme hallt in mir wieder, dann steigen die Bilder auf. In meinem Kopf. Diese Hitze auf meiner Haut. Ich bin entführt worden, bin nicht mehr hier, lesend in meinem Sessel. Diesmal schaue ich nicht durch’s Schlüsselloch. Ich bin mitten unter ihnen. Habe Angst, Hunger und keinen Ort wo ich hingehöre. Deshalb stehlen sie. Weil ihnen nichts gehört und alles.
“Das Wohlbefinden schmiegt sich an die Gedanken wie ein nasses Hemd, und erst bei einer unerwarteten Bewegung merkt man, wie tief man in der Falle sitzt.”
Textzitat Andrés Barba Die leuchtende Repubilk
Verfallen bin ich den Schlußfolgerungen Barbas, seiner Sprache und der Übersetzung von Susanne Lange, diesen Methapern. Andrés Barba verzichtet auf jegliche Blumigkeit, adressiert direkt sehr direkt, seine vergleichenden Bilder haben eine Wucht wie ein Paukenschlag. Ich spüre sie wie die Vibration einer Basstrommel tief im Bauch. Dabei haucht er ihnen nicht selten einen philosophischen Gedanken ein an dem ich dann hängen bleibe. Nur zu gerne lese ich diese Absätze noch einmal und markiere sie mir.
Ist es nicht ganz wunderbar, wie viele unterschiedliche Erzählarten und Stile es zu entdecken gibt? Und spanische Autoren möchte ich gerne noch einige mehr in meinem Regal haben. Neben denen des von mir heiß geliebten, leider zu früh verstorbenen, in Barcelona geborenen, großartigen Erzählers Carlos Ruiz Zafón ist noch Platz. Wer seinen Friedhof der vergessenen Bücher einmal betreten hat wird ihn nie wieder vergessen und so ist es mir auch mit Barbas San Cristóbal ergangen. Vielleicht ist das eine Eigenschaft der spanischen Literatur, das sie ihre Leser:innen ganz und gar vereinnahmt? Jetzt will ich es wissen. Die Buchmesse wartet und da werde ich mich nach weiterem Lesestoff aus Spanien umsehen. Ich freue mich drauf und wer weiß, vielleicht sehen wir uns dort? Winkt ganz doll, wenn Ihr mich seht, gell?
Mein Dank geht an den Luchterhand Verlag für das Besprechungsexemplar.
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