Montag, 17.06.2019
Figuren leben in ihren Geschichten und Geschichten leben von ihren Figuren. Wir bangen mit ihnen als würden wir sie persönlich kennen, vermissen sie, da ist die letzte Seite noch nicht umgeblättert, liegen auf der Lauer, um zu erfahren, ob es Neuigkeiten von ihnen gibt. Ja, liebe Bookaholics Deutschland ihr habt recht, es ist Zeit, Zeit mein Bücherregal zu durchforsten um sie zu nominieren. Die bisherigen Lieblinge meines Lese-Lebens.
Und wer sich bereits eingangs gewundert hat, warum das Titelbild zu diesem Beitrag ausgerechnet drei Schafe zieren, dem sei jetzt geholfen, denn es geht gleich “tierisch” los.
Mein erster Liebling ist nicht aus dem Ei, sondern aus der Feder von Leonie Swann geschlüpft. Jep, genau. Sie hatte ihren Durchbruch mit ihren Schafskrimis Glenkill und Garou. Ihr neuester Protagonist trägt allerdings kein wollenes Gewand, sondern ein Federkleid, zart und grau. Darf ich vorstellen: Gray, von Art und Herkunft ein Graupapagei, er wohnt im gleichnamigen Krimi von Frau Swann, ist megaschlau und keineswegs auf den Schnabel gefallen, hat aber leider seinen Besitzer eingebüßt. Ich hätte ihn vom Fleck weg adoptiert, wäre mir nicht der Uni-Professor Augustus Huff zuvorgekommen. Der sich auch sofort in die Ermittlungen um das Verschwinden von Grays Herrchen verwickeln läßt. Beschattungen mit Papagei? Unauffällig ist das nicht zu lösen, zumal der Beste ständig seinen Senf dazu geben muss, nicht gut alleine sein kann und auch schon mal ein Zimmer zerlegt. Er liebt Bananen, okay auch das kann schief gehen, und man könnte seine Sätze auch als Beleidigung auffassen. Mich hat er mit seinen Einwürfen im Sturm erobert und sein “Nimm ‘ne Nuß” ist mir ein Lieblingsspruch geworden, der einfach immer paßt …
Wo wir schon mal beim Fliegen sind, mit ihm konnte auch ich es. Er hat es mir beigebracht, Peter Pan. Meinen sehnlichsten Wunsch hat er mir erfüllt, mich davor bewahrt im Herzen erwachsen zu werden und ein paar Körnchen Feenstaub habe ich im Nachttisch immer in Reserve, man kann ja nie wissen, und so weit ist Nimmerland ja gar nicht … Gleich zweimal habe ich ihn kennengelernt, mit ihm Abenteuer erlebt, fantasievoll und auch düster. Denn es gibt nach der Original-Fassung von 1902 von J. M Barrie quasi noch eine “Rattenfänger-Version” von ihm, sie heißt “Der Kinderdieb” und ist von Brom. Ich sags, Euch da erkennt man den Guten nicht wieder, wie eine Figur einen solchen Wandel durchleben kann finde ich grandios. Gemein war er ja schon immer ein wenig, und dreckig und vorlaut, aber hier gruselt es einen dann doch …
Wenn man das Fenster Nachts offen lässt haben möglicher Weise auch andere Zutritt. Aber ich bin ja zum Glück kein Mathe-Genie, auf mich hätten sie es nicht abgesehen. Obwohl kennengelernt hätte ich ihn schon gerne persönlich, den Vonnadorianer aus Matt Haigs Roman “Ich und die Menschen”. Lebenskluges und warmherziges gibt er von sich, der Außerirdische, der in einer regnerischen Freitagnacht den Körper des Mathematik Professors Andrew Martin kapert um einen Job zu erfüllen. Gut, Martin hat das nicht überlebt, was meinen Helden per se zum unblutigen Mörder macht. Der Mord selbst war aber nur Mittel zum Zweck, denn sein Volk hat ihn eigentlich entsandt, um den weiteren mathematischen Fortschritt der Spezies Mensch zu verhindern, die mit ihrem Hang zu Gewalt und Selbstzerstörung mehr als kritisch gesehen wird. Tja, dieses überirdische Wesen steckt jetzt also in Prof. Martin, der äußerlich unversehrt, aber verhaltensauffällig, nicht mehr wieder zuerkennen ist und entdeckt uns, die Menschen, vergißt dabei seinen Auftrag. Leuchtet mit der Taschenlampe unser Innerstes aus, fragt sich was Gefühle sind und was Empathie. Diese Offenheit und diese Aufgeschlossenheit mit der er alles in sich und um sich herum aufnimmt, wie er uns Menschen mit seinen Fragen auf uns selbst zurückwirft. Wie er ein banales Erdnussbutter-Sandwich oder klassische Musik erlebt, ist für mich großartig. Unter den 97 Ratschlägen für einen Menschen, die er am Ende für seinen “Eigentlich-Nicht-Sohn” formuliert, ist auch dieser hier: “Lache. Es steht dir” – genau so wird’s gemacht …
Wenn ich ihm in der Regional-Bahn gegenübersitze, kriege ich das zufriedene Grinsen eh nicht mehr vom Gesicht. Auf dem Weg zur Arbeit, auf dem immer gleichen Platz packt Guylain Vignolles die Hauptfigur im Debütroman von Jean-Paul Didierlaurent allmorgendlich ein paar Seiten Papier aus seiner Tasche aus und beginnt vorzulesen. Mal sind es einzelne Seiten aus einem Krimi, mal aus einem Kochbuch. Um mich herum hören ihm alle wie verzaubert zu, was er liest ist völlig egal, das er liest, hier und jeden Tag, ist wunderbar. Dabei kämpft Guy Tag für Tag mit einem Monster, das seinem Freund schon die Beine ab und mir das Herz zerrissen hat. Welches Monster das ist, findet mal lieber schön selbst heraus. Ich verrate nur soviel, wer mit Guylain unterwegs ist, wird seiner Sanftheit, seiner Sehnsucht und der Hoffnung, die er zu geben vermag verfallen. Also Vorsicht, die Herzensbrecher sind unter uns …
Wenn man statt eines Herzens eine Kuckucksuhr in der Brust trägt und sich deshalb auf keinen Fall verlieben darf, weil dieses ja sonst unweigerlich aus dem Takt kommt, dann ist das schon eine Hausnummer und da es eh immer so kommt, wie es kommen muss, zumindest bei Mathias Malzieu in “Die Mechanik des Herzens”, passiert das Unerlaubte, na klar. Sein Jack ist wahrlich ein besonderer Junge und er hat mich einst aus einer meiner schlimmsten Leseflauten herausgeholt, mich einen “Beinahe-Nicht-Romantiker” bekehrt, das weil er so unverbrüchlich an die eine große Liebe glaubt, alles für sie tut, sich nicht beirren lässt und immer bei sich bleibt. Weil er träumt, wie man nur mit reinem Herzen, Pardon reiner Kuckucksuhr träumen kann. Eingebettet ist er in eine Geschichte in der man in Metaphern baden kann. Ich liebe das und bin ein bisschen auch verliebt in ihn!
Bei gebrochenen Herzen braucht man bekanntlich einen Arzt, sonst kann das übel enden. Auch da hätte ich einen im Angebot. Wenn er auch nicht mehr ganz so taufrisch ist mit seinen an die achtzig Jahren, im Oberstübchen ist er noch ganz schön auf Zack. Dr. Siri Paiboun, ist zudem zwei in eins, denn in ihm haust ein alter Schamane, weswegen es ihm auch möglich ist die Toten zu sehen, nicht alle aber manche, was sich auch als sehr nützlich erweist, wenn er in seiner Eigenschaft als der einzige Leichenbeschauer von Laos am Ermitteln ist, was quasi ständig passiert. Colin Cotterills Hauptfigur ist mir über die Jahre ein guter Freund geworden, seine Abenteuer zu lesen ist für mich wie nach Hause kommen. Querkopf, Querdenker und so richtig “grad heraus” bewundere ich seinen Mut, sich auch gegen politische Kräfte zu wenden und sein Ding zu machen. Auf ihn kann man sich immer verlassen, er ist unorthodox, pragmatisch und clever.
Und wenn wir schon beim Adjektive sammeln sind und uns in der beinah gleichen Altersklasse umschauen, landen wir bei meinem nächsten Liebling. Agatha Christie hat mir vom Jugendbuch zum Erwachsenenbuch eine Brücke gebaut, ihre Miss Jane Marple hat mir die Hand gegeben, mir über diesen wackligen Steg geholfen und dafür gesorgt, das ich nach einer orientierungslosen Suche am Lesen dran geblieben bin. In meinen Mittagspausen habe ich eine kleine Buchhandlung regelmäßig durchgewühlt nach Krimis in denen sie mitspielt. So ist sie bis heute tatsächlich meine Lieblingsspürnase. So herrlich schrullig, gewitzt, durchtrieben, vorlaut, very british, extrem gut im Kombinieren, herrlich den Inspektor düpierend, kriegt sie einfach am Ende alle. Hach, was soll ich sagen, ich mag sie halt!
Ob sie ihn hätte zur Strecke bringen können, da bin ich mir allerdings nicht so sicher. In der Kategorie “üble Schurken” rangiert er bei mir ganz vorne, der Krutzler Ferdinand, seines Zeichens Unterweltboss im Wien der Nazi-Zeit, er treibt sein Unwesen zwar im Roman “Schwere Knochen” von David Schalko ist aber eine reale Figur. Vielleicht macht ihn das so echt, so glaubwürdig, so hassenswert und dann fühlt man auch wieder mit ihm, hat Mitleid mit ihm, weil das Leben und die anderen aus ihm, einem Kleinganoven einen Schwerverbrecher und Mörder gemacht haben. Das hat mich ehrlich betroffen gemacht, nein ich schiebe dabei nicht auf die Seite was er getan hat und wofür er verantwortlich zeichnet, heiße es auch nicht gut. Seine Integrität und eine gewisse Verwundbarkeit die er sich dabei aber hat bewahren können, davor habe ich Achtung. Dieser Ganove, Freund, Ehemann, ehemalige KZ-Wärter und Bandenchef.
Von einem mutigen, wenn auch verbrecherischen Mann zu einer beherzten, durch und durch integeren Frau, einer ebenfalls realen Figur überleiten, wie mache ich das jetzt? Irgendwie sind beide Opfer ihrer Zeit, finde ich. Beeindruckt hat sie mich vor allem durch ihre innere Stärke, das Freifräulein aus dem Münsterland, Anette von Droste-Hüshoff in Karen Duves Roman, “Fräulein Nettes kurzer Sommer”. Reichlich Hohn und Spott muss sie ertragen, als Frau die schreiben will und das halt auch kann, und wie. Über sich selbst sitzt sie Gericht, erduldet Demütigungen mit einer Grandezza die mich ratlos macht. Wie geht das? Ihre Klugheit, ihr wacher Verstand, ihre unglaubliche Beobachtungsgabe und die Feinheit mit der sie das in Worte zu fassen vermag, was sie fühlt und beschäftigt, hat sie auf meine Lieblingsfiguren Liste gesetzt. Eines meiner Lieblingsgedichte stammt ebenfalls von ihr. Der Knabe im Moor. Weil sie dieser geheimnisvollen Landschaft ebenso verbunden ist wie ich, weil ihre Leidenschaft neben dem Lesen und Schreiben den Mineralien gehört. Weil sei eine Wortschmiedin, eine Satzkünstlerin, ein starker Charakter ist …
So wie er, einen starken, außergewöhnlichen Charakter hat, mit ihm schließe ich meinen Reigen und höre auf zu plaudern. Fermin Romero del Torres, er wohnt in Barcelona, in der Reihe um den “Friedhof der vergessenen Bücher” von Carlos Ruiz Zafon. Ihn liebe ich für seinen heldenhaften Mut, weil er ein Herz aus Gold hat. Weil er unverbrüchlich an das Gute glaubt, für die, die er liebt durch’s Feuer geht, gleich ob ihn Folter oder anderes davon abbringen sollen. Weil er einen und sich um Kopf und Kragen schwadroniert. Wie er mit Narben auf der Seele die Franco Diktatur überlebt hat ist heldenhaft und wie er sich trotz alledem einen Humor bewahrt, der jeder Geschichte das Drama nimmt und sie wunderbar in der Balance hält. Lese-Herz was willst Du mehr!
Habt Dank, dass Ihr mich auf meiner wortreichen Reise zusammen mit meinen Lieblingen begleitet habt, vielleicht teilen ja auch wir uns einen gemeinsamen Buch-Freund(in)? Eine habe ich noch in Reserve behalten. Es ist Mary aus Nell Leyshons Die Farbe von Milch. So mutig, so unfassbar positiv … Nein, aus, Schluß jetzt ;-)!
Sehr gerne, Sabine! Dankeschön. Vielleicht magst Du ja den einen, oder anderen doch noch näher kennenlernen. LG von Petra
Petra, das war klasse! Ich kenne nicht viele von Deinen Bücherhelden und -heldinnen, aber Du hast sie mir so liebevoll nahegebracht, dass ich jetzt praktisch mit allen per Du bin, Dankeschön.