Wolkenkuckucksland (Anthony Doerr)

Den Kopf in den Wolken haben. Ist was Feines. Sich Tagträume erlauben auch, was wir nur selten, wenn überhaupt machen, denn wir haben ja ständig zu tun. Arbeiten uns an Terminen und Aufgaben ab. Lassen uns nicht in Ruhe. Sie nennen das Erwachsensein und von Kindesbeinen an sind wir beschäftigt damit es zu werden. Erwachsen. Das Träumen zu verlernen. Sich in eine Geschichte fallen zu lassen, ist dem Träumen sehr ähnlich und wie gut es tut eine zu finden, in der man ganz und gar verschwinden kann, wissen alle denen das schon einmal vergönnt war …

“Möwen kreisen um die Kuppel der Hagia Sophia wie Gebete um Gottes Kopf. Der Wind krönt die Wellen des Bosporus mit weißem Schaum und um die Landzunge fährt eine Handelsgaleere, die Segel voll gebauscht.”

Textzitat Anthony Doerr Wolkenkuckucksland

Wolkenkuckucksland von Anthony Doerr

Konstantinopel.
Fernweh, das ist die Krankheit an der Anna leidet. Als Mädchen hat man sie zum Sticken verdammt, was ihr Brotjob ist, folgsam soll sie sein. Und dankbar. Als Waise die sie nunmal ist. Vielmehr aber ist sie eine Träumerin. Vom Fliegen träumt sie und von einer Stadt in den Wolken. Von ihr und ihrem Erfinder Antonios Diogenes hört sie und wird magisch von der Macht der Wörter angezogen. Sie beginnt allen Widerständen und Verboten zum Trotz mit Hilfe eines alten Lehrers Buchstaben aneinanderzureihen. Dafür lohnt es sich auch Stockschläge zu erdulden. Die gibt es auf die Fußsohlen. Denn plötzlich fügen sich die Zeichen auf dem Pergament und vor ihr ihm Staub, wo sie übt, wie durch ein Wunder aneinander und ergeben einen Sinn. Einen Sinn, der ihre Welt jetzt füllt.

Während Anna im Verborgenen lernt, wird anderen Ortes ein Kind geboren. Gar nicht so weit von Konstantinopel entfernt. Ein Junge, gezeichnet von einer Scharte, sie entstellt sein Gesicht. Mutter und Hebamme sind noch im Schock, da nimmt der Großvater das Kind in der Nacht und trägt es hinaus in den Schnee. Beinahe gleichtzeitig mit dem Mob kommt er zurück, den Säugling hat er immer noch bei sich. Er konnte ihn am Ende des Weges nicht zurücklassen. Brachte es nicht über’s Herz. Die Dorfbeweohner nehmen ihm jetzt die Entscheidung ab, sie vertreiben die gesamte Familie mit Heugabeln und brennenden Fackeln, denn in diesem Kind, sie nennen es Omeir, da ist man sich sicher, muss ein Dämon wohnen …

Das Geschehen geht auf Wanderschaft, ich bewege mich zwischen den Erlebnissen von Anna und denen von Omeir hin und her. Dann bin ich plötzlich in der Gegenwart, Schluss mit mediterraner Wärme, hier ist es kalt und auf den Dächern liegt meterhoch der Schnee. Die Geschichte von Antonios Diogenes kennt man auch hier und denen die träumen können öffnet sie eine ganz neue Welt. Ich sitze im Zuschauerraum in einer Bibliothek in Lakeport/ Idaho, wo Schulkinder die Aufführung eines Stückes proben das Wolkenkuckucksland heißt während ein junger Mann, sich Zugang ins Gebäude verschafft. Mit dem Spielleiter des Theaterstücks, Zeno, reise ich in diesen Szenen in Gedanken nach Korea, zurück in die 1950ziger Jahre. Worte stauen sich hinter Zähnen schreibt Doerr und die Erinnerung an einen Krieg flammt auf. Aber zurück zu dem jungen Eindringling, er scheint entscheidend zu sein in diesen Sequenzen. Was will er hier, sich in den Schatten verbergend und ist das etwa eine Granate in seiner Hand? Schon katapultiert mich ein Knall in die Zukunft:

Konstance lebt hier an Bord der Argos, zwischen künstlichem Tag und immerwährender Nacht, zwischen daylight und nolight wie es hier heißt. Sie wurde auf diesem Raumschiff geboren, das unterwegs ist auf einem Missionsflug zu einem Exoplaneten. Die Erde, der Heimatplanet ihrer Eltern, ist nicht mehr bewohnbar ist und sie muss jetzt mit ihren zehn Jahren lernen, dass sie unterwegs ist ohne jemals anzukommen. Denn 520 Jahre soll die Reise zu dem Planeten dauern der als Ziel ausgemacht worden ist …

Ein ganzer Planet auf einem Server. Hier kann man in einem Atlas spazieren gehen, das mochte ich glaube ich am allermeisten und ich verstehe das Konstance danach süchtig wird. Die Welt wie sie einmal war liegt ihr zu Füßen, wenn auch immateriell. Die Technik mit der dieses Schiff vollgestopft ist begeistert mich und dann geschieht das Undenkbare …

Als an Bord der Argos eine Seuche ausbricht bange ich mit Konstance, die Stimmung wechselt, wird klaustrophobisch, spannend, die Enge drangvoll, der Prolog holt mich ein und ich verstehe, glaube ich …

So mag ich das! Es gibt Abwechslung satt und Doerr öffnet mir eine Tür nach der anderen, dabei ist seine Weltenzeichnung grandios. Ich bewege mich zwischen Sprachcomputern und Wachstumsleuchten, Nahrungsmitteldrucken und künstlicher Intelligenz. Letztere heißt Sibyl, ist das Herz eines interstellaren Raumschiffes und für eine kleine Gemeinschaft von rund sechzig Menschen auf diesem Schiff auch dessen Seele. In diesem Teil des Doerrschen Universums ist Konstance mein Guide. Ihr Vater ist der Gärtner hier und Herr über alles was wächst und grünt, er kann sogar schmecken ob ein Salat ein glückliches Leben hatte und er kann vielleicht Geschichten erzählen. Die von Aethon und dem Esel ist Kontance die liebste, da ist sie wieder, Ihr erinnert Euch, in Teilen stellt er sie einem jeden seiner Kapitel voran …

Anthony Doerr, geboren am 27. Oktober 1973, in Cleveland, Ohio, viele kennen ihn wahrscheinlich durch seinen Megaseller Alles Licht, das wir nicht sehen aus dem Jahr 2014 (den ich tatsächlich nicht gelesen habe, noch nicht!), hat sich mit einem neuen Roman Zeit gelassen. Von vilen mit Ungeduld erwartet liegt er jetzt vor und er bekommt gerade reichlich Aufmerksamkeit. Zurecht!

Was hat mir seine Geschichte sprachlich gut gefallen! Sie ist exzellent geplottet, märchenhaft charmant, spannend und atmosphärisch so dicht gewebt wie es nur ein Meister vermag. Eine Geschichte zum Genießen, die langsam auf der Zunge zergeht wie ein gutes Sahnebonbon und so wie man seinen Geschmack noch lange im Mund hat, verbleibt der Ton dieser Geschichte im Ohr.

Bei Doerr darf ich mich wieder wie ein Kind fühlen. Ich sitze gefühlt zu seinen Füßen und höre ihm zu. Er ist ein großartiger Erzähler, seine Geschichte so reich an Szenen, dass ich gar nicht weiß wo zuerst hinhören. Einen staunenden Blick hat er seinen Helden mitgegeben und er hat mich mit großen Ohren und weit geöffnetem Herzen lauschen lassen.

“Das Vergessen liegt immer auf der Lauer.”

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Narrengeschichte und Märchen. Drei Erzählstränge verbindet er durch einen vierten. Alle losen Fäden, alle Zeiten sind verknüpft durch sie. Diese eine Geschichte, eine altgriechische Erzählung, ersonnen von dem Poeten Antonios Diogenes, niedergeschrieben auf 24 Tafeln aus Zypressenholz, in Fragmenten ist sie noch erhalten. Sie handelt von Aethon, den man in einen Esel verwandelt und der vor Spott und Hohn fliehend an den Rand der Welt und in eine Stadt in den Wolken gelangen will. Diese Geschichte wird durch die Zeit getragen von Mund zu Ohr, von Ohr zu Mund. Sie überlebt und überdauert, zeitlos wie die Zeit selbst. Schenkt Hoffnung. Heilung. Der Gedanke, dass eine Erzählung unsterblich ist gefällt mir sehr und was mochte ich dieses charmante Augenzwinkern in Doerrs Sätzen, das sich immer wieder einschleicht. Seine lebendige Figurenzeichnung und sein clever designtes Erzählkonstrukt. Seine Handlung ist komplex und trotzdem kann man sich unangestrengt an ihr satt schmökern. Das muss man erst einmal schaffen, mit so leichter Feder einen Roman austüfteln der in jeder noch so kleinen Erzählsequenz fesselt.

Eine Geschichte in der Geschichte, die immer und immer wieder vorlesen wird, wie gemacht ist auch dieser Roman für mich zum Vorlesen und drum passt er auch so gut für das Medium Hörbuch. Es liest:

Frank Arnold, deutscher Schauspieler, Sprecher, Dramaturg und Regisseur, geboren 1957 in Berlin. Prall gefüllte 16 Stunden und 21 Minuten taucht man in der vollständigen Lesung mit ihm ein und erlebt ein mit reich Bildern gesättigtes Hörvergnügen. Ich bin nur ein paar Sätze weit gekommen, da lasse ich mich fallen. Auf den Klangteppich seiner Stimme. Kundig führt er mich durch die Zeitsprünge. Stellt mir die Figuren vor, ist bei ihnen. Übertreibt nicht, gibt ihnen genügend Raum sich mir zu zeigen, mit all ihren Facetten. Arnold versteht es, sich dem Text nicht aufzudrängen, er bleibt begleitend, was sehr angenehm ist, so kann die Geschichte ihre erzählerische Wucht voll entfalten.

Wunderbar stimmig übersetzt von Werner Löcher-Lawrence verblüfft mich diese Geschichte nicht zuletzt mit ihren Verknüpfungen, ihrer Auflösung, an ihrem Ende. So geht gutes Erzählen. Danke dafür und hoch lebe sie, die Welt der Geschichten!

Mein Dank geht an Der Hörverlag für dieses Besprechungsexemplar, die Regiearbeit, für ein Hörbuch-Jahres-Highlight!

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