Man hat mir eine Stunde geschenkt und ich liege wach. Es ist der Morgen des 31. Oktober und wir sind jetzt alle wieder auf Normalzeit umgestellt. Ich lese im Bett, trödele mich in den Tag. Denke über die Beziehung nach, über die Patricia Malcher mir da erzählt, über Abhängigkeit und Prägung. Mache mir Notizen und weiß nicht was ich schreiben soll. Weil ich nichts verraten will und alles, während ich die Fäuste balle, den Kopf schüttle um kurz darauf wieder mitfühlend zu nicken. Ein grandioses Wechselbad der Gefühle hat sie mir da angerichtet und ich halte ihre Geschichte sehr gerne ans Licht: Lasst Euch nicht täuschen von einem schlichten Cover wie diesem, denn es hat es faustdick hinter den Deckeln …
LIEB KIND von Patricia Malcher
Er musste seiner Mutter endlich von ihr erzählen. Pia hatte recht. Mit Kathrin war er deshalb schon gescheitert. Aber nicht heute. Oder doch heute? Warum eigentlich nicht gleich heute? Genau, sobald sie ihm die Tür öffnete, wie sie es immer tat, nie hatte er einen Schlüssel gebraucht, würde er es tun. Und dann stand er da. Vor verschlossener Tür. Sie ließ ihn warten? Dabei hatte er sie eben noch hinter dem Vorhang gesehen.
Erst zögerte er verwundert, dann kam die Angst. Er verschaffte sich Zutritt und fand sie. Am Boden liegend, nicht ansprechbar, über ihr auf dem Herd ein überbordend kochender Topf. Nie war sie krank gewesen. Nie. Jens kniete neben seiner Mutter nieder und wählte den Notruf am Handy …
Tests, Schwindel und endlose Tage im Krankenhaus. Dünnes Brot und dünner Tee. Hagebutte. Am Abend immer Hunger. Ein riesiger Blumenstrauß erinnert an seine Überbringerin. In den Mülleimer. Da gehört er hin, nicht auf das Nachtkästchen. SIE hatte ihn mitgebracht. SIE wohne jetzt bei ihm, hatte er kleinlaut gesagt …
Patricia Malcher, geboren 1970 in Recklinghausen, studiert Deutsch und Mathematik, wird Lehrerin und Ausbilderin für Lehramtsanwärter*innen, findet dann ihre Berufung als Autorin. Sie schreibt und lebt heute in Lüdinghausen im Münsterland.
Malcher beobachtet ihre Figuren sehr genau. Zeichnet sie mit harten Konturen. Bei ihr gibt es kein grau, in Lieb Kind geht es entweder schwarz oder weiß zu und das braucht die Geschichte auch, es tut ihr soo gut!
Jens und seine Mutter ein Verhältnis. Ein spezielles. Kein gutes. Ein belastetes wie sich alsbald herausstellt. Eines das sich auf sein bisheriges, jetziges und weiteres Leben auswirkt. Heftig. Seine Ehe geht in die Binsen und seine Frau Kathrin entzieht ihm zunächst ihr gemeinsames Kind. Jetzt hat Jens Pia kennengelernt und er liebt sie, glaube ich. Glaubt er.
Ein Idyll, das Idyll Familie, bekommt hier keine Risse es wird zerlegt. Stück für Stück. Fasziniert beobachtet man als Leser*in was da wie unter dem Mikroskop vor einem liegt. Präzise, spannend und unheilverkündend sind Grundstimmung und Ton dieser bemerkenswerten Geschichte. Die Figurenzeichnung erzeugt in meinem Nacken ein Prickeln, bisweilen stellen sich mir die feinen Härchen auf. Sie sind so lebensecht geraten, das man sehr schnell das Gefühl hat sie tatsächlich zu kennen. Wie Nachbarn von denen man zu wenig weiß, gar nicht mehr wissen will, oder lieber doch alles …
Und was mochte ich Patricia Malchers Kapitelübergänge gerne! Sie sind wie Brüche, fügen sich aber gleichzeitig in den Text ein wie Bindeglieder. Eine Ahnung lassen sie in mir aufsteigen eine ungute. Eine Ahnung von Bevorstehendem, von Drohendem. Eine Ahnung von Vergangenem. Prägendem, nie Überwundenem.
Hatte ihm die Mutter den Sohn entfremdet? Dadurch für die Trennung von seiner Kathrin gesorgt? Ich bin geneigt das zu glauben, oder täusche ich mich? Wer hat hier eine dunkle Seite?
Als dann doch noch die Rede von Jens’ Vater ist, ist die Geschichte schon weit fortgeschritten. Ich erfahre von einem alles entscheidenen Streit. Viel Zeit wird ihnen jetzt nicht mehr bleiben, Jens und seiner Mutter, das zu klären was geschehen ist als er vier Jahre als war. Denn nach ihrem Sturz und zahllosen medizinischen Tests im Krankenhaus folgte DIE Diagnose. Sie würde sterben. Bald schon und Jens entschied: Sie musste bei ihm einziehen. Kurz nach Pia. Und es war nicht das Einzige, was er seiner neuen Freundin würde zumuten müssen. Er hatte sie auch angelogen. In Bezug auf seine Vergangenheit und …
Malcher spielt mit mir, mit vorhersehbarer Unvorhersehbarkeit. Es kommt wie es kommen muss. Eine Uhr die nicht mehr tickt, überlässt dem Nichts den Raum. Eine Schürze am Haken, als habe diejenige, die hier wohnte nur für einen Moment ihre Küche verlassen. Ein Trauma und die Wahrheit arbeiten sich an die Oberfläche.
Eine Lehrerin und ihr Schüler. Zufälle gibt es nicht. Ein Sohn. Eine Mutter. Ein Geheimnis.
Patricia Malcher lässt mich lange im Ungewissen, so wie ihre Hauptfigur und das fand ich wirklich großartig. Genau das mag ich, wenn neben verschwimmenden Genre-Grenzen eine unterschwellige Spannung einzieht und sich ein Bogen bis zum Ende hält. Gerne empfehle ich allen diese Geschichte, die anspruchsvoll unterhalten werden wollen, allen die einen klaren, präzisen Erzählton mögen und nicht nur völlig zurecht war dieser Roman auch in diesem Jahr auf der Short-List der Hotlist zu finden. Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse wurde zwar ein anderer Gewinnertitel verkündet, aber ohne diesen zu kennen, sage ich: Malcher hätte den Preis ebenso verdient. Ich freue mich nach diesem mehr als gelungenen Debüt auf Neues von ihr.
Was wenn nicht wahr sein darf, was doch wahr ist und wenn nicht am Ende alles gut wird …
“Nein. Er sperrte sich. Sein Kopf fühlte sich wattig und dumpf an. Gedanken krochen ihm unter die Haut. Langsam. Vorsichtig. Stockend. Stanzten seit Tagen kleine Löcher in sein Innerstes.”
Textzitat Patricia Malcher LIEB KIND
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