Anschläge auf Ahnungslose und Unschuldige im Namen von was auch immer. Aufgrund geistiger Umnachtung oder wegen idealistischer Verbohrtheit. Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht in den Nachrichten von der Tat eines Einzelnen oder von Gruppen erfahren, die uns immer wieder die eine Frage stellen lassen: Warum macht man so was? Genutzt werden Bomben, Fahrzeuge, Schusswaffen und wie im Fall dieser Geschichte die Waffe eines Schlächters. Als hätte man es jetzt endgültig geschafft sich zu entmenschlichen …
“Am Abend des jüdischen Neujahrsfestes betrat ein Mann mit einer Machete eine Reformsynagoge in einer der ruhigsten, grünsten und sichersten Städte der Vereinigten Staaten.”
Textzitat Ayelet Gundar-Goshen Wo der Wolf lauert
Wo der Wolf lauert von Ayelet Gundar-Goshen
Palo Alto. Silicon Valley. Kalifornien. Ein Attentäter trifft auf 220 Betende und 15 Mitarbeiter einer Catering-Firma und sie sagen danach in den Nachrichten, alle hätten Glück gehabt. Nur vier Menschen hatte der Mann verletzt und eine junge Frau getötet.
Lia Weinstein, 19 Jahre, hatte kein Glück gehabt. Sie hatte in der Nähe der Tür gestanden als der Attentäter eintrat. Beherzt hatte sie sich dem Täter in den Weg und vor ihre Großmutter gestellt. Es war das letzte, was sie zu tun imstande gewesen war.
Videos machen die Runde. Sie stammen von Anwesenden, die auf der Galerie der Synagoge noch die Zeit gefunden hatten zu filmen. Das FBI ermittelt, fasst den Mann und kommt zu dem Schluss es handele sich um einen psychisch gestörten Einzeltäter. Was bleibt ist die Angst. In der jüdischen Gemeinde. Was bleibt ist die Frage, warum niemand versucht hatte ihn aufzuhalten.
Ein ehemaliger Elitesoldat, der angeblich auch dem Mossad angehört haben soll, tritt aus dem Schatten und er scheint genau im rechten Moment zur Stelle zu sein. Er beginnt die Jugendlichen in der Gemeinde zu trainieren. Wichtig zu wissen ist, wie man sich wehrt und auch wie man im Zweifel tötet. Adam, der Sohn von Lilach und Mihael Schuster fängt ebenfalls Feuer …
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte zunächst Psychologie in Tel Aviv, danach Film und Drehbuch in Jerusalem. Ihr Roman Löwen wecken wird derzeit als TV-Serie verfilmt und er hat mich seinerzeit sehr beeindruckt. Übersetzt aus dem Hebräischen hat ihren aktuellen Roman Ruth Achlama. Behutsam und gekonnt fängt sie im Deutschen eine Stimmung ein, die einen Schaudern macht.
Spannend kann Frau Gundar-Goshen. Hier folgt man ihr atemlos, denkt zunächst was sie da vorweg nimmt erkläre schon alles, jetzt werde halt rückwärts erzählt, aber weit gefehlt.
Sie lässt eine Geschichte erwachen, die sich mit einer unfassbaren Dynamik zu einem wahren Krimi auswächst. Mit Andeutungen, ersten Schlußfolgerungen, liefert sie reichlich Diskussionsstoff und Denkanstöße und wie schon bei ihren Löwen lotet sie dabei menschliche Abgründe aus. Es scheint ihr nichts menschliches fremd zu sein und trotz der Vielzahl an brisanten, gesellschaftlich relevanten Themen die sie bedient, wirkt der Roman zu keiner Zeit überladen, sondern ausgesprochen intensiv und genauso ist er auch eingelesen:
Milena Karas, geboren am 2. April 1982 in Köln, Schauspielerin und Synchronsprecherin, zaubert in dieser erste Hörbuch-Fassung eines Gundar-Goshen Romans eine Stimmung die fesselt. Ich lausche ihr in dieser ungekürzten Lesung 9 Stunden und 23 Minuten gebannt. Sie schlüpft in die Haut einer ich-erzählenden Mutter, die die Autorin Lilach nennt, und gleich ob erschrocken, nachdenklich oder mitfühlend, sie ist drin in dieser Rolle. Man hängt an ihren Lippen, ungläubig, gespannt und mit angehaltenem Atem. Man folgt ihrer Stimme, die mit ihrer Sanftheit staunen macht und jeden noch so kleinen Zweifler echt wirken lässt.
Erlebt Mobbing in der Schule. Online und offline. Diskriminierung aufgrund von Ethnie und Herkunft. Aufgrund sexueller Orientierung. Ein wahres Füllhorn an Themen bringt Ayelet Gundar-Goshen in ihrem Roman unter, raffiniert in der Plotausgestaltung und psychologisch ausgefeilt. Das Unbehagen das es/sie dabei in mir ausgelöst, die Kernfrage, die sie ihre Figuren stellen lässt: Wie gut kenne ich die Menschen die mir am nächsten sind wirklich?, rütteln mich gehörig auf.
Im konkreten Fall fragt sich das Lilach Schuster, die Mutter von Adam, die mit Mann und Sohn aus Israel ins Silicon Valley ausgewandert ist, weil ihr Mihael noch nie einem strahlenden Algorithmus widerstehen konnte, das Programmieren ihn fasziniert, es ihnen einen Wohlstand ermöglicht, von dem sie in ihrer Heimat nur hätten träumen können und weil die Sicherheit eines Lebens im Frieden winkt. Der Haken dabei ist, das man in der Fremde oft fremd bleibt. Anfeindungen ganz anderer Art ausgesetzt ist, besonders dann, wenn man Erfolg hat. Erfolg, der zwangsläufig Neider auf den Plan ruft. Schutz findet man in der Umgebung Gleichgesinnter, hier ist es eine israelische Community. Bis ein Angriff auf diesen Schutzraum, eine Synagoge, alles verändert und vieles offenbart. Zuviel.
Geliehenes Geld, ein Gesichtsverlust, ein gescheitertes Startup, eine belastete, verhängnisvolle Freundschaft, ein Besuch aus Israel mit Folgen.
Rattenfänger und Lichtgestalten, Verführung Manipulation und Verhängnis, eine Partynacht, ein toter Schüler, ein Mordverdacht.
Die Feindbilder stehen. Die Alibis ebenso. Oder eben nicht …
Einmal Opfer immer Opfer? Bereits aus dem Kindergarten hatte er Bisswunden an den Händen nach Hause gebracht. Sich zu wehren lag ihm nicht. Seine Eltern gerieten darüber in Streit. Sein Vater wollte ihn wehrhaft. Seine Mutter nur glücklich.
Graffitis die schuldig sprechen und die keinen Zweifel lassen, wem man, und warum zutraute einen Mitschüler zu töten.
Was tun wenn man vor aller Augen plötzlich am Pranger steht? Wehrlos, machtlos. Schutzlos vor weiteren Angriffen auf die eigene Person. Die Familie.
Beschützerinstinkt regt sich. Unglauben auch. Verleugnung, Wut und dann doch Zweifel. Die Zweifel einer Mutter. An ihrem Sohn. An ihrem Ehemann. Schuld und Scham. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
“Da war noch etwas. Etwas, dass ich nicht aussprechen konnte. Ein vager, amorpher Gedanke. Ein Satz, der noch keine Wörter enthielt, nur weiße Zwischenräume und ein Fragezeichen am Ende.”
Textzitat Ayelet Gundar-Goshen Wo der Wolf lauert
Facettenreich und auch mein Vertrauen darauf erschütternd, ob man denen, zu denen man gehört vertrauen kann, blind und uneingeschränkt, wickelt mich Ayelet Gundar-Goshen um den Finger. Als wäre ich ihr nicht schon längst auf den Leim gegangen, ganz und gar arglos, und als wüsste ich nicht, das der Mensch dem Menschen ein Wolf ist …
In die Falle getappt, meine Wut erstickt, fassungslos, aufgewühlt. So lassen sie mich zurück, die beiden Damen Gundar-Goshen und Karas, nach einem grandiosen Finale, mit Paukenschlägen, die in meinem Bauch noch immer vibrieren wie ein tiefer Bass. Das ist er jetzt also, der Ausgang dieser Geschichte, an der ich klebte wie eine Klette, Silbe für Silbe bis zum letzten Wort. Ich atme aus, mit einem langen tiefen Stoß. Habe ich etwa die ganze Zeit über die Luft angehalten?
Sprachlich prickeln die Worte von Gundar-Goshen mir noch auf der Haut. Meine Nackenhaare stehen noch, als die Erkenntnis auch bei immer tiefer einsickert. Hinter der nächsten Satzbiegung könnte alles klar sein. Dachte ich lange. War es aber nicht. Denn es geht hier nicht um das Naheliegende. Nie. Zu keiner Zeit. Zwischen diesen Zeilen steht jede Menge Unausgesprochenes und der verzweifelte Wunsch zu schützen was man liebt. Um jeden Preis …
“… ich habe ein Kind auf dieser Welt und ich trage die Verantwortung. Ich muss dafür sorgen, dass er nicht erfährt zu welchem Gräueltaten Menschen fähig sind.”
Textzitat Ayelet Gundar-Goshen Wo der Wolf lauert
Mein Dank geht an den Argon Verlag für dieses Besprechungsexemplar.
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