Wie man die Zeit anhält (Matt Haig)

*Rezensionsexemplar*

Sonntag, 10.06.2018

Hier wohnen Sie also, die Momente reinen Glücks, habe ich vor etwa einem Jahr geschrieben, nach meiner Reise in den isländischen Sommer. Weit zurück in der Erinnerung, zu einem Erlebnis dieser Reise, hat mich der Blick auf diesen Buchtitel getragen. Wie ein feines Gespinst hatten sich damals die Gischt-Tröpfchen auf mein warmes Gesicht gelegt. Das Zischen und Donnern des Wassers des nahen Wasserfalls in meinen Ohren, war mein Herz plötzlich ganz leicht gewesen. In solchen Augenblicken bin ich mir sicher, dass ein göttliches Wesen an bestimmten Orten präsenter ist als an anderen und das es keine Kathedrale dafür braucht. Die Zeit hätte ich anhalten mögen, hätte ich denn gewußt wie man das macht …

“Die Zeit befiehlt, ihr sind wir untertan” …

Ich bin alt. Das ist das Wichtigste was es über mich zu sagen gibt, richtig alt. Und es ist das, was am Schwersten zu glauben ist.” (Textzitat).

Geboren am 3. März 1581, vor rund vierhundert Jahren, hat Tom Hazard heute das Aussehen eines Vierzigjährigen. Eine seltene Veranlagung läßt ihn viel langsamer altern als uns normale Menschen, dabei ist er weit entfernt davon unsterblich zu sein. Ausgestattet mit einem exorbitant gut funktionierenden Immunsystem, das sämtliche viralen und sonstigen Effekte für ihn niederringt, hat er die letzten vierhundert Jahre körperlich gut überstanden. Seine zahlreichen Erinnerungen bereiten ihm mittlerweile allerdings anfallartige, ja rasende Kopfschmerzen …

1623. Der Tag, an dem Toms Mutter für seine Veranlagung büßen sollte, würde sein langes Leben für immer verändern. Als Hexe hatten sie sie gebrandmarkt, gequält und aus dem Haus gezerrt, ihn niedergeschlagen und zusehen lassen. Sie sei mit dem Teufel im Bunde, um ihm ein unsterbliches Leben zu verschaffen, ihm dem kein Bart wachse, der nicht älter würde. Ihrer beider Flohbisse wurden als Teufelsmale umgedeutet, das war ihnen Beweis genug. Auf den Hexenstuhl gebunden, gefesselt, vor Toms Augen im Fluss versenkt. Hexen galten als überführt, wenn sie sich aus einer solchen Lage befreien konnten und überlebten. Der Tod seiner Mutter bewies also ihre Unschuld und schenkte ihm das Leben. Was aber nutzte Tom das jetzt noch? Die Todesangst in den Augen seiner Mutter würde er nie mehr vergessen, er floh kopflos und verlor sich bald darauf rettungslos in seiner Liebe zu Rose, auf die er noch im gleichen Jahr traf.

An die Pest verlor er sie und mit ihr den Sinn in seinem Leben. Fortgeschickt hatte sie ihn, damit niemand mitbekam wie er jung blieb, während sie immer älter wurde. Die gemeinsame Tochter, Marian, hatte er bei ihr zurücklassen müssen. Ziellos war er umhergezogen und jetzt, jetzt lag Rose vor ihm, entkräftet und von dieser grausamen Krankheit gezeichnet. Im Sterben gestand sie ihm, das Marian fort war, wie er damals geflohen, als ihr klar geworden war, dass sie so sein musste wie ihr Vater, alterslos, schutzlos den Blicken und Fragen der Gemeinschaft ausgeliefert, ihre Mutter dadurch in Gefahr bringend. Zweihundert Jahre lang würde Tom nach ihr suchen, ruhelos und verzweifelt …

Matt Haig – was immer er schreibt, lese, oder höre ich sobald es erscheint, dabei ist mir der Inhalt völlig wurscht. Auf Neues von ihm lauere ich und freue mich darauf. Er ist mein Alltags-Philosoph!

Auch diesmal ist das was zwischen seinen Sätzen steht wieder lebensklug und weise, frei von jeglicher Belehrung, hat einen ganz eigenen Zauber. Augenzwinkernd, entspannt und in einem leicht humorvollen Plauderton erzählt er, seine Worte wurden wunderbar ins Deutsche übertragen, ich liebe diese warmherzige Scharfsinnigkeit, seine Nachdenklichkeit und seinen positiven Grundton.

Seine Romane sind für mich wie Balsam. Besonders in Zeiten, in denen es mir selbst nicht so gut geht, wirkt die Zuversicht, die selbst zwischen seinen melancholischen Zeilen steht, aufmunternd und macht mir das Herz leicht. Die Wehmut, die seine Hauptfigur in diesem Roman umtreibt berührt dabei ebenso, wie sein unerschütterlicher Glaube an die eine große Liebe.

Poetisch schickt uns Haig hier durch die Zeit und um die Welt. London, Toronto, Sri Lanka, Island, Hawaii. Wir erleben die Evolution der Sprache mit ihm, vom Schreiben mit Federkiel und Tinte bis hin zum Twitter-Account der Neuzeit. Was für ein Kulturschock, Hashtags und Abkürzungen wirken dabei wie moderne Hieroglyphen.

Tom geht mit Shakespeare ins Theater, kloppt sich im Parterre, mit denen, die auch einen Stehplatz haben, um die besten Plätze vor der Bühne, während weiß gepuderte feine Damen aus den oberen Rängen missmutig auf diesen Pöbel herabschauen. Hier tritt Shakespeare noch selbst auf!

Als Geschichtslehrer hat er so unsere liebe Mühe die Kids für seinen Lehr-Stoff zu begeistern. Da greift er auch schon mal zu ungewöhnlichen Mitteln und spielt Michael Jacksons Billy Jean auf der Laute, singt dazu im Falsett. In den 1920er Jahren arbeitet er in Paris als Barpianist, trinkt Bloody Maries mit Scott F. Fitzgerald und seiner Zelda im Kampf gegen die Langeweile, sinniert mit ihm über seine Texte. Zwischen wunderschönen Hollywood-Filmstars trinkt er Kaffee, trifft Charlie Chaplin und bestaunt Josephine Baker umhüllt von Zigarettendunst. In Tuscon, Arizona wird er zu Pferd in eine Schießerei verwickelt, dumm nur, dass er mit dem Klavier besser umgehen kann als mit dem Revolver, so fängt er sich eine Kugel ein. Und er ist so verliebt, schmerzlich, wundervoll und unumkehrbar!

Unabsichtlich, auf der Suche nach Antworten für die eigene Existenz, stürzt er einen engagierten Arzt und Wissenschaftler aus dem Bereich der Altersforschung in ein schweres Dilemma, das dieser nicht überlebt. Mit seiner Veranlagung, die wie ein Segen klang aber in Wahrheit ein Fluch war …

In seinem neuen Roman beschäftigt sich Matt Haig unterhaltsam, abwechslungsreich und sehr kurzweilig mit der Zeit, mit dem was sie mit uns Menschen macht, mit dem Gedanken, was wäre, wenn wir einen scheinbar unbegrenzten Vorrat von ihr hätten. Sehen wir dem Leben nur zu, oder nehmen wir daran teil?

Alle acht Jahre ein neues Leben, eine neue Identität. Jedes Leben leben, das man will? Dabei hat der Gedanke, dass der Körper, wenn er auch sehr, sehr langsam altert, der Geist aber nicht, eine ganz eigene Grausamkeit. Wie viele Erlebnisse, schöne wie schreckliche, kann man dabei verarbeiten und geistig gesund bleiben? Wie kann die Seele da mithalten?

Gleich wie alt man wird, immer lebt man innerhalb der Parameter des eigenen Charakters. Kein noch so entfernter Ort kann daran etwas ändern. Uns selbst entkommen wir nie, so Haig. Dauert ein Leben gar mehrere Jahrhunderte, schafft man es dann auch mit sich und dem was man getan, oder auch nicht getan hat zu leben?

Dazu verdammt zu sein, den Menschen dabei zuzusehen, wie sie immer wiederkehrend die gleichen Fehler begehen. Alles ist schon einmal dagewesen. Jeder Alltag eine beständige Kette von Wiederholungen, Gefährten, die man lieb gewonnen hat, gehen stets verloren, während man selbst zurück bleibt. Dies in so hoher Zahl, das man diese Verluste irgendwann nicht mehr aushalten mag.

Wie findet man in solch einem langen Leben seine Bestimmung, ohne an den Gifttod zu denken, seine Sorgen im Alkohol zu ertränken? Am Besten, man bindet sich gar nicht erst, nur wie lebt man, wenn in einem Leben die Liebe als Anker fehlt? Nichts ist bei alldem so klar, als das die Menschen aus der Geschichte nichts lernen. Der menschliche Geist hat seine eigenen Gefängnisse, so Haig, niemand kommt ungeschoren davon, auch wenn er nach den Maßstäben menschlichen Richtens nicht erwischt wird.

Die Zukunft ist für uns alle ungeschrieben, gleich wie sehr uns die Vergangenheit auch prägen mag. Das Hier und Jetzt ist es, und die Achtsamkeit in ihm zu verweilen, auf das wir uns alle viel mehr konzentrieren sollten.

Ach ja, fast hätte ich es vergessen, wie man die Zeit anhält weiß ich jetzt auch, es ist ganz einfach, wir alle können es, machen es aber viel zu selten …

Christoph Maria Herbst – kitzelt die Sätze, das es eine Freude ist, eine echte Idealbesetzung für Haigs Texte! Als Schauspieler kennt man ihn in eher komischen, ja manchmal sarkastischen Rollen, seinen Stromberg finde ich zum Niederknien. Für Haig schafft er es wunderbar die melancholische Note der Geschichte herauszustellen. Wenn er zu sprechen beginnt, läuft vor meinem inneren Auge sofort der Film los, bunt und facettenreich. Mal quirlig, lebendig, mal flüsternd, mal nachdenklich, mal verzweifelt oder in Hochstimmung, Herbst beherrscht die Klaviatur der Stimmungen meisterhaft. Seinen Vortrag habe ich sehr genossen! Die beiden “Hs”, Haig & Herbst, gehen für mich mit diesem Hörbuch eine wunderbare Symbiose ein.

Die gute Nachricht für alle Film-Fans zum Schluß: Wie man die Zeit anhält soll mit Benedikt Cumberbatch in der Hauptrolle verfilmt werden. Das kann gut werden, will ich meinen, wir dürfen also gespannt sein!

 

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    11. Juni 2018

    Dankeschön, Anja! Lieben Dank für das Kompliment. Dir wünsche ich noch viel Freude auf Deiner Reise mit Tom Hazard. Achte gut auf Dich, zum Ende hin wird es noch ganz schön haarig ;-). LG Petra

  2. Anja
    10. Juni 2018

    Liebe Petra,

    heute hinterlasse ich Dir auch hier einen Kommentar.
    Ich finde das machen wir viel zu selten…
    Ich habe noch ca. 1,5 Stunden zu hören von diesem wundervollen Hörbuch und ich bin gespannt was mich da noch erwartet.
    Aktuell bin ich gerade zu Besuch im Altersheim mit Tom und treffe dort auf eine alte Bekannte… Nie war die Bezeichnung treffender als hier.

    Zuerst war ich skeptisch bzgl. Christoph Maria Herbst, aber er liest das Buch so unglaublich, dass man wirklich in den Text versinkt.
    Ich bin schon auf dem Weg nach Hause an der Ausfahrt vorbei gefahren, so hat mich die Geschichte gefesselt.
    Vielen Dank für Deine wundervolle Rezension.
    LG
    Anja

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