Verlassene Orte (Cal Flyn)

Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt

Zwei Jahre, sagt Cal Flyn, habe sie mit Reisen an Orte verbracht, an denen das Schlimmste schon passiert ist. Zwölf davon, verteilt über den gesamten Globus, stellt sie uns in diesem Buch vor.

Kriege, Strahlung, Vergiftung, Klimakatastrophen oder banal wirtschaftliche Zusammenbrüche haben dafür gesorgt, dass Menschen sich an diesen Orten zurückgezogen haben.

Wenn der Mensch verschwindet, kommt die Natur zurück. Darum ist dieses Buch kein düsteres geworden, trotz der Zerstörung die es auch betrachtet, sondern ein faszinierendes, eines das die Hoffnung in sich trägt, das Renaturierung, Rückverwilderung möglich ist. Wenn auch keine Umkehr zur Ursprünglichkeit. Wir betrachten mit Flyn sowohl die Schönheit des Verfalls, seinen morbiden Charme, als auch die giftigen Hinterlassenschaften industrieller Ausbeutung.

Wunderschön ist diese Buchausgabe. Einband und Illustrationen sind durchgängig und stimmig in Orange und Violett gehalten, ein farbiger Kopfschnitt rahmt ein. Die Haptik des flexiblen Einbandes und das Format fühlen sich nach Bildband an und wie von einer textilen Struktur eingehüllt. Ein ausführlicher Anhang belegt inhaltlich die Qualität der Recherche, die diesem Buch zugrunde liegt.

Für mich war es eine atemlose Reise es zu lesen. Es hat mich an Orte geführt, von denen ich nicht nur nicht wusste das sie verlassen sind, von vielen war mir nicht einmal bekannt, dass es sie überhaupt gibt.

Cal Flyn, geboren in Inverness, Schottland, lebt auf den Orkneys, ihr Schreiben umfasst journalistische und literarische Sachbücher. Ihr Buch <Verlassene Orte> im Original, <Islands of Abandonment>, trug ihr den einflussreichsten Preis Großbritanniens und Irlands für junge Schriftsteller, den „Sunday Times Young Writer of the Year 2022“ ein, war ein Bestseller der Sunday Times. Übersetzt hat ganz wunderbar Milena Adam, herausgegeben wurde der Titel, in der Reihe Naturkunden von der Autorin und Buchgestalterin Judith Schalansky by Matthes & Seitz. (Lieben Dank von mir nach Berlin für das Besprechungsexemplar!).

Wie Inseln, Enklaven der Verlassenheit wirken sie, die Orte in diesem Buch, auch dann, wenn sie nicht von Wasser umgegeben sind.

Das die Natur ohne uns Menschen besser zurecht kommt, ist keine neue Erkenntnis. Das gilt beispielsweise für die Gegend um den Reaktor von Tschernobyl. Tiefseekrater, die Atomwaffenversuche in den Meeresboden des Pazifiks gesprengt haben, verminte Sperrzonen einstiger Kriegsgebiete, Geisterstädte und versalzene Seen. Sie alle haben eines gemeinsam: Nichts ist dort mehr wie zuvor, manches aber genau weil der Mensch jetzt die Finger davon lässt, artenreicher und vielfältiger. Sogar so, das Wissenschaftler vielfach der Meinung sind, man müsse Landstriche bewusst kontaminieren um ihre Renaturierung zu ermöglichen. Eine provokante These, auch mit ihr hat sich Cal Flyn auseinandergesetzt.

Dieses Buch ist weder Dystopie noch heißt es gut, was wir unserem Planeten antun. Es zeigt auf, wie viel Potenzial und Kraft in ihm steckt und Cal Flyn schreibt dabei mit dem Herzen einer wahrhaftigen Poetin. Es braucht gar keine Illustrationen um zu sehen was sie sieht, so wunderbar bildhaft, anspruchsvoll ohne anstrengend zu sein, ist ihre Sprache. Mit ihr schaue ich in ein Gebeinhaus, betrete eine Kirche in Detroit Michigan, gehe mit ihr durch den Mittelgang, spüre noch immer, wie sie sagt, die kühle feste Präsenz des Erhabenen, zwischen glatten klaren Lichtbündeln über taubengrauem Staub. Detroit hat in den vergangenen siebzig Jahren einen Bevölkerungsrückgang von rund zwei Dritteln zu verzeichnen. Ganze Straßenzüge sind inzwischen verwaist. Insgesamt sollen 80.000 Grundstücke verlassen sein.

Wir bleiben noch etwas in den USA und besuchen einen Schiffsfriedhof in Passaic, der Gezeitenmeerenge, die New Jersey von Staten Island New York trennt. Hier liegen mehr als 400 Schiffe im Wasser und rosten vor sich hin. Unter ihnen im Schlick, die Gedächtnisspuren aller chemisch- und pharmazeutischen Betriebe die sich hier im 19. und 20. Jahrhundert angesiedelt hatten. Darunter Dioxin, der giftigste und unzerstörbarste Stoff den wir kennen, ausgetreten aus einer alten Fabrik für das Entlaubungsmittel Agent Orange.

Mittlerweile ist sie abgerissen diese Fabrik, ihre Überreste wurden in einem Betongrab versiegelt, ihr Umgebung aber ist immer noch hochgiftig. Genauso wie die einst größte Mülldeponie der Welt, die man in unmittelbarer Nachbarschaft so gut als möglich beerdigt hat. Unweit davon Shooters Island mit seiner ehemaligen Werft und Öl-Raffinerie, die im Ersten Weltkrieg 9.000 Menschen beschäftigt hielt. Heute leer und verlassen, gehört die Insel jetzt einer Naturschutzorganisation und wurde zum Vogelparadies für Ibisse, Nachtreiher und Kormorane, aber die Idylle täuscht. Alles was in diesem Wasser schwimmt ist PCB verseucht und damit todbringend in der Nahrungskette. Das gilt auch für die geradezu explosionsartig wachsende Population von Blaukrabben in dieser Bucht. Eine einzige von ihnen enthält so viel Dioxin, dass sie bei einem Menschen Krebs auslösen kann. 

Ein neues Kapitel und wieder dreht sich das Rad des Lebens, auch in diesem Fall schlägt die Natur zurück, in Form unnatürlicher Selektion und mittels eines Wettrüstens von pestizidresistenten Insekten, Fischen und Schalentieren, herbizidresistenten Pflanzen und antibiotikaresistenten Bakterien. Lebewesen verändern sich fortwährend, um bei den widrigsten Bedingungen überleben zu können. Was Fluch ist und Segen zugleich.

<Bäume brechen aus den Körpern ihrer gefallenen Vorfahren hervor. Vampirische Würgefeigen werfen ihren Opfern holzige Gliedmaßen um die Schultern und saugen sie aus. Epiphyten lassen sich in Astnischen nieder wie nistende Vögel – und sammeln abgefallene Blätter, um daraus Kompost zu machen. Wie Pelze liegen Flechten lasziv über borkigen Armen. Eine Masse wogenden, grünenden Lebens.>

Textzitat Cal Flyn Verlassene Orte

Auf, auf in die Usambara Berge nach Tansania, wo ein verlassener botanischer Garten und ein stillgelegtes Labor auf uns warten und mit ihm alles was die Bestrebungen des Kolonialismus in dieser Region angerichtet haben. Zarte Libellen und großäugige Uhus hatte es hier ebenso wie eine einzigartige endemische Flora, die von eingebrachten Ziersträuchern geentert wurde, als seien Aliens gelandet. Kein Wald ist so friedlich wie er scheint, schreibt Flyn und beschreibt damit den lautlosen Kampf der hier entbrannt ist. Ein Überlebenskampf nach einem Überraschungsangriff von Pflanzen und Samen, der Forschende biologische Zusammenhänge lehrt, die in das Naturresarvat kommen, das Anami heute ist.

Hier lerne ich: Alles was lebendig ist, ist miteinander verbunden. Alles hat seinen Platz.

>Die Natur schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder- alles ist neu und doch immer das alte.<

Johann Wolfgang von Goethe

Jedes Buch braucht ein letztes Kapitel und bevor Cal Flyn ihres am Saltonsee in Kalifornien aufschlägt, fliegt sie eine weitere faszinierende Schleife mit mir in die Karibik. Am 18. Juli 1995 erlebte Plymouth auf der Insel Montserrat, seinen Pompeji-Moment. Dem Fortschritt der Seismologie ist zu verdanken, das die massiven Ausbrüche des Vulkans Soufrière die rund 3.500 Einwohner nur aus der Stadt vertrieben haben und es keine Totesopfer gab. Seit 1997 ist Plymouth eine Geisterstadt, ist der Vulkan, der sich über sie erhebt bis heute launisch und unruhig.

Im Inneren vieler verschütteter Gebäude sind inzwischen Farnoasen entstanden, ein festgerosteter Dosenturm, in einem mit Asche und Sand gefluteten Supermarkt, wirkt wie ein surealistisches Kunstwerk. Ein einstmals luxuriöses Hotel wird von unterarmdicken Baumwurzeln durchzogen, Reservierungsunterlagen liegen herum. Flyn erinnert an Mary Shelleys <Der letzte Mensch>. Inmitten apokalyptischer Szenarien unternimmt sie immer wieder auch literarische Exkurse, was einfach nur großartig ist!

Hat sich Flyn bislang auf den grünen Schimmer zwischen Asphalt und Beton konzentriert, weit davon entfernt, uns einen Ablassschein für diese Umweltsünden auszustellen, thematisiert sie jetzt unseren ökologischen Fußabdruck. Der längst sowohl astronomische als auch geologische Kräfte als die dominanteste im Wandel abgelöst hat. Sie stellt sachkundig klar, wie sehr wir mit dem Blick auf unmittelbare Sorgen leben und wie wir die schleichend, für unsere Sinne nicht wahrnehmbaren Veränderungen des Klimawandels vielfach deshalb ignorieren. Dabei sind und bleiben WIR der Supervulkan.

Dieses Buch ist unfassbar, so ganz anders als ich es erwartet habe, man ahnt nicht einmal, was im nächsten Kapitel folgt. Mutig wagt sich Cal Flyn für uns vor, schlüpft unter Zäunen durch, wandert an Ufern von giftigen Seen, allein oder mit Führern, klopft sich Arsenstaub von der Kleidung. Verstört, rüttelt auf und tröstet auch. Tatsächlich.

Wenn jedem Anfang ein Zauber innewohnt, dann kann man über die Enden nicht besser schreiben! Entführt in den Wald von Verdun, kein Kapitel hat mich angesichts des Schicksals der betrachteten Flächen und der Superkräfte, die Pflanzen hier zeigen mehr berührt. Flyn zitiert Milton. Ich spüre eine Träne.

Mich hat Cal Flyns Schreiben, die Vielfalt der Themen die sie unterbringt, wie fesselnd sie zu erzählen versteht und wie ausgewählt sie formuliert ungemein berührt. Für mich ist ihr Buch damit DAS Highlight in meinem sehr durchwachsenen Lesejahr 2023. Das ausgerechnet ICH das einmal über ein Sachbuch sagen würde! Umso lieber applaudiere ich ihr dafür stehend!

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