Vatermal (Necati Öziri)

Leberfleck – Schönheitsfleck – Muttermal. Der Begriff Muttermal ist alt, er stammt aus dem 16. Jahrhundert, ich schnappe irgendwo auf, seinerzeit sei man davon ausgegangen, ein solches Mal sei aufgrund unbefriedigter Gelüste während einer Schwangerschaft entstanden. So gezeichnet gehörten Mutter und Kind zueinander. 

Heute weiß man, es handelt sich bei einem Muttermal erst einmal banal um eine Pigmentveränderung der Haut, die vererbt wird. Von der Mutter auf ihre Kinder, aber eben auch vom Vater auf sein Kind …

Vatermal von Necati Öziri

Immer wenn Arda in den Spiegel schaut sieht er ihn. Diesen dunklen Fleck unter seinem Auge. Er erinnert ihn an die Leerstelle in seinem Leben. Den fehlenden Vater. Sie sagen ihm, er sei ein Revolutionär und im Gefängnis gewesen. Das erwarte ihn auch wieder. Das Gefängnis. Wenn er zurück gehe in die Türkei. Was er tatsächlich getan hat. Er ließ seine Frau und seine beiden staatenlosen Kinder in Deutschland zurück, im Ruhrgebiet. Dort wachsen sie auf. Verbringen ganze Tage im Flur der Ausländerbehörde.

Seiner Mutter hat er eher nicht gefehlt. Der Vater. So scheint es.Ob sie, Ümran, ihn je geliebt hat? Metin, seinen Papa? Immerhin hatte der sie in seiner Wut an den Haaren über den Wohnzimmerteppich gezogen, im Streit an die Wand gedrückt. Nicht nur einmal. Daran erinnert sich Aylin und auch daran, dass er sie nicht hatte mit zur Arbeit nehmen wollen. Ans Fließband mit den toten Tieren. Wie er sagt. Glücklich war die Mutter aber ohne ihn auch nicht geworden. Sie hing an der Flasche. Seit Jahren schon. Konnte dem Schicksal nie recht ein Schnippchen schlagen, es hatte immer nur nach ihr ausgeholt. Zu ihrer Tochter fehlt ihr die Bindung. Ardas Schwester Aylin lief früh weg. Kam zu einer Pflegefamilie. Redet nicht mehr mit ihrer Mutter. Seit vielen Jahren schon nicht mehr.

Arda wird sterben. Sagen sie. Zu jung. Weniger als ein halbes Leben hat er gelebt. Autoimmunhepatitis. So benennen sie den Grund. Seine Leber hat den Dienst quittiert, in der Hoffnung das Cortison ihm noch helfen kann, haben sie auf der Intensivstation seinen Körper mit Schläuchen gespickt. Hier liegt er und schreibt. Gegen die Angst. An den Vater, den er nicht kennt. An den Vater, den er nie hatte. Damit der ihn kennenlernt. Schreibt, so wie ihm der Schnabel gewachsen ist und weil ihm sein Herz überläuft.

Laborwerte, Kittelbrigaden, eine Handschriftenanalyse und andere seltsam anmutende Routinen, begleiten Ardas Krankenhausalltag. Seine Schwester und seine Mutter nehmen abwechselnd an seinem Krankenbett Platz. Gemeinsam wollen sie nicht hier sein. Aber sie beantworten zumindest jetzt Ardas Fragen und er hat viele …

“Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie der letzte Sommer meiner Jugend war, bevor fast alle meine Freunde verschwunden sind.”

Textzitat Necati Öziri Vatermal

Necati Öziri, geboren am 2. Dezember 1988 in Datteln, Dramaturg und Autor, las 2021 beim Bachmann Wettbewerb und wurde mit dem Kelag und dem BKS-Bank-Publikumspreis ausgezeichnet, sein Roman Vatermal schaffte es in diesem Jahr bis auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 und damit unter die besten sechs. Für mich sehr verdient!

Öziri nimmt uns in diesem Roman mit auf eine wahrhaftige Achterbahnfahrt der Gefühle. Rasch vereinnahmt einen die Geschichte von Arda und den Frauen in seinem Leben, die ihn erzogen haben. Wie viel an dieser Geschichte autobiographisch ist erfahren wir nicht, das macht sie aber nicht weniger lebensecht. Öziris Figurenzeichnung ist es, die wie aus dem Nichts Protagonisten erschafft, die man zu kennen glaubt. Als Bekannte, Nachbarn, Kollegen. Die man tröstend in den Arm nehmen möchte. Oder auch mal kräftig schütteln.

Gebannt folgt man seinem Erzählen, dass wie Ardas Briefwechsel mit einem Unbekannten angelegt ist, aber auch die Stimmen seiner Mutter und Schwester aufnimmt. Immer wieder muss man hart schlucken. Dann wieder lacht man auf. Angesichts hell leuchtender Erinnerungsbilder und einer Unverkrampfheit im Ton, die seine Figuren zu Sympathieträgern macht.

Frech und frisch erfährt man von Ardas Schulzeit, von den Freundschaften, die bis heute in ihm nachhallen. Davon, wie es ist eine Schwester zu lieben und zu vermissen, Gras zu rauchen, einen Freund durch Abschiebung zu verlieren. Da hilft auch kein Wodka Blutorange. Keine Prügelei und kein Abi-Türke. So nennen sie Arda. Die Jungs aus seiner Clique. Wenn es eng wird, muss stets er es richten. Mit Worten. Gleich ob die Polizei am Bahnhof vor ihnen steht, oder ob es um den besten Anmachspruch geht.

Klamotten klauen bei H&M, Knutschflecke und Eierbecher die den eigenen Namen tragen. Aylin ist angekommen. Bei Pflegeeltern, die Profis sind in dem was sie tun und trotzdem fühlt es sich nicht richtig an.

Aylin findet ihren Weg, trotz vieler Kurven und unwegsamem Gelände. Arda wird achtzehn und von einem Staatenlosen zum Deutschen, zu einer “officialy Kartoffel”. Will Literatur studieren, wird am Ende eingebürgert mit dem Hinweis, dass eine Ausbürgerung jederzeit möglich sei und nach all den Jahren sieht das Büro von Herrn Kowalski in der Ausländerbehörde noch immer gleich aus. Nach all den Stunden, die er, seine Mutter und Aylin hier verbracht haben …

Der Sound der Straße und ein Job bei McDonald’s statt eines Lehramtsstudiums. Die Ehe als Flucht aus der Enge der Familie, wo das neue gemeinsame Leben in einem noch fremden Deutschland aus mehr Pflichten als Rechten besteht. 

Ja, bei Öziri geht es auch um Fremdheit und Migration, um Chancen, genutzte und ungenutzte, um Familie. Respektive um die eben nicht vorhandene Rama-Familie, die in friedlicher Eintracht um den Tisch versammelt ist. Seine Geschichte auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren, aber wäre zu kurz gesprungen. Sie ist viel facettenreicher, mischt einen Coming-Of-Age-Touch mit einem Familiendrama. Setzt dabei dramaturgisch reichlich Paukenschläge, diese auf den Punkt und die Balance zwischen augenzwinkernden, wehmütigen und tragischen Passagen ist wunderbar austariert. Nichts wirkt überzogen, keine Figur überzeichnet, alles sitzt, alles passt. Man erliest sich ein Lebenspuzzle. Sucht mit dem Helden fortwährend nach passenden Teilen. Nach und nach entsteht aus Fragmenten ein Bild. Ein weißer Fleck bleibt. Eine Lücke bis zum Schluss. Die man füllt mit Erinnern, Sehnsucht, Lügen und Fantasie. 

Wer lieber hören will, kann auch das tun. Eine Hörbuch-Fassung ist bei Hörbuch Hamburg erschienen und wird sehr einfühlsam gelesen von Eray von Egilmez. Von mir gibt es für beide Varianten eine Empfehlung. Von Herzen!

Ich bin diesem Roman bis zum letzten Satz sehr gerne gefolgt. Ganz besonders dieser Gefühlswechselbäder wegen und auch weil ich die Konstruktion des Plottes sehr clever fand. Hätte ihm den Deutschen Buchpreis verliehen!

Chronologisch und geradeaus erzählen können viele, Rückblenden einwerfen auch, eine Geschichte so zu verschränken, dass man als Leser:in nie weiß was als nächstes kommt, es trotzdem nie verworren wirkt, sich im Gegenteil alles nach und nach fügt, ist nicht vielen gegeben. Öziri schon und damit hat er mich im Verlaufes seines Textes mehr und mehr erwischt. Mitreissend, zärtlich, warmherzig, zornig, unverschämt. Ein Kaleidoskop genau benannter Alltagsmomente hat sich durch diese Geschichte in meinem inneren Kino gedreht. Necati Öziri weiß wie das geht, mich genau da erwischen, wo ich es mir von einem Test wünsche.

Was für eine Reise. In der Zeit. In das Innereste einer Romanfigur. In das schlagende Herz der Dinge.

“Wenn es eine Sache gibt, die ich begriffen habe, dann, dass wir alle nur beschissene Gastarbeiter sind, und das Einzige was du tun kannst, ist, aufzustehen und das Leben suchen, solange du noch kannst.”

Textzitat Necati Öziri Vatermal
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