Das Internat Theresianum im 4. Wiener Bezirk, blickt auf eine mehrere Jahrhunderte alte Tradition zurück. Umgeben von einem rund 50.000 m2 großen Park, beherbergt von historischen Gebäuden, zählt die nicht unumstrittene Eliteschule bis heute zahlreiche berühmt gewordene Absolventen zu ihren Ehemaligen. Unter ihnen der Schauspieler und zweifache Oscarpreisträger Christoph Waltz, sowie der Gewinner des diesjährigen Deutschen Buchpreises Tonio Schachinger. Letztgenannter verortet seinen Siegerroman Echtzeitalter genau hier, tauft seine alte Schule um auf den Namen Marianum und lädt uns ein seiner Figur, einem Schüler namens Till Kokorda hierher zu folgen und bis zu seiner Matura zu begleiten:
Echtzeitalter von Tonio Schachinger
Bis zur dritten Klasse ist Till gut weggekommen. Er gehört zu den Zahlenmenschen hier, den Nerds, den Außenseitern, in dem Wiener Elite Internat Marianum. In das er in Teilzeit geht. Er schläft zu Hause. Untergebracht ist die Schule historisch prächtig in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, umgrenzt von Mauern, die nicht nur keine Unbefugten hineinlassen, sondern auch Befugte nicht wieder hinaus. Weswegen Till sich fühlt wie in einem Gefängnishof.
Kein geringerer als Daniel Kehlmann sei hier zur Schule gegangen, wird ihr Sportlehrer nicht müde zu betonen. Drei lebende Fremdsprachen und Latein hören zum Pflichtprogramm und jetzt steht Französisch neu für Till mit auf dem Stundenplan.
Sein Klassenvorstand, der Herr Dolinar, der übelste unter den Lehrkräften hier, streng ungerecht und gemein, befindet zügig, darin sei der Till eine Null und das ist nicht gut. Der Dolinar, dessen Bestrafungsmethoden von allen Lehrkräften hier, inklusive der Direktorin, stillschweigend geduldet werden, führen sie doch zu äußerster Disziplin und Fügsamkeit unter seinen Schülern, setzt Till auf seine Schikanierliste und entreißt ihn quasi damit gewaltsam der Unauffälligkeit, die er als Nerd bislang genossen hat.
Das Till, mit seinen knapp fünfzehn Lenzen, tagsüber im Unterricht so durchhängt, weil er sich nacht in dem Kosmos des Onlinestrategiespiels Age of Empires II rumtreibt, mittlerweile zu den zehn besten Spielern weltweit aufgestiegen ist, kriegt indes niemand mit. Seine Mutter nicht, die ist nach der Trennung von seinem Vater frisch verliebt ist. Till hat da so seine eigenen Probleme mit. Sein Vater nicht, bei ihm wurde Krebs diagnostiziert und der muss einen eigenen Kampf aufnehmen. Einen, den er am Ende verlieren wird. Nur knapp versöhnt mit seinem auf ihn dauerwütenden Sohn.
Ich hab’ ja sowas von keine Ahnung von dieser Gamingwelt, in der Till sich da verliert, verstehe phasenweise nur Bahnhof und Abfahrt. Ein Qualitätsmerkmal dieses Romans ist, dafür die konventionelle, aber auch locker flockige Erzählart Schachingers, die kurzweilig daherkommt.
Wer sich davon nicht gänzlich mitreißen lässt, bemerkt die Zwischentöne, die Schachinger gesellschaftskritisch und nicht ganz unpolitisch anschlägt. Das hat mir durchaus gefallen. Auch seine Eloquenz. Den Deutschen Buchpreis hätte ich ihm aber wohl eher nicht verliehen, bei mir ist der Funke zu seiner Figur einfach nicht übergesprungen. Auch nach etlichen Kapiteln und dem Tod von Tills Vater hatte er mich immer noch nicht emotional erreicht, ich wollte mir nicht einfach nur eine “Schulgeschichte” erlesen, gängige Penälerprobleme inklusive. Erste Liebe, der erste Kuss, Herschmerz und dies und das. Hürdenläufe, Klassenbucheinträge, eine schwerhörige Religionslehrerin kurz vor der Pension, ein Musiklehrer den man herrlich bloßstellen kann. Der böse Klassenlehrer. Schulausflüge, beste Freunde und Erzfeinde.
Verstanden, Echtzeitalter ist ein guter, ein moderner Schulroman. Es geht um den ewig gleichen Kampf Schüler gegen Lehrer. Streiche, kleine Gemeinheiten, größere Grausamkeiten versus Langeweile, das erste erwachen politischen Interesses. Wenn man ehrlich ist, aber wird Till von seiner ersten Liebe aufgerüttelt. Die scheint mir reifer als er, blickt als junge Erwachsene bereits um sich, ermutigt ihn für das einzustehen, was er will. Wenn ihr mich fragt, wäre Till ohne sie nicht so weit gekommen.
Was mir mindestens genauso abgegangen ist wie Till, ist das Mitgefühl für diese “rich kids”, die sich in Schachingers Klassen so tummeln und deren Eltern ihnen schon früh, laut ihrem Autor, die Möglichkeit der Mitbestimmung genommen haben. Deren weiterer Studien- und Lebensweg, der auf Schulen wie diesen beginnt, klar vorgezeichnet ist. Das sind natürlich Karten, die man da gezogen hat, mit denen man auch umgehen muss, aber Bedauern wollte bei mir für diese Heranwachsenden nicht aufkommen. Sie haben im Grunde alle Möglichkeiten, auch die “Nein” zu sagen.
Auch zu Till bin ich bis zum Schluß irgendwie auf Abstand geblieben, respektive er zu mir, so unentschieden (wird echt Zeit Alter!). Seine Flucht in digitale Welten, da taucht er völlig ab, konnte ich gut nachempfinden. Mein Fluchtpunkt war und ist immer noch das Lesen. Dabei konnte/kann ich alles ausblenden. Von daher verstehe ich was ihn umtreibt, wie anstrengend bisweilen das Auftauchen aus diesen Welten ist. Auch wie alternativlos. Trotzdem komme ich ihm nicht näher. Vielleicht ist das gewollt, für mich steht er wie ein Schattenriss in seiner eigenen Geschichte, derweil alles um ihn herum einfach geschieht. Wie eine ferngesteuerte Videospielfigur kommt er mir bisweilen vor. Ist noch sehr auf der Suche nach dem was er will. In dem Alter normal und liest man die Geschichte aus diesem Blickwinkel heraus, fühlt man sicher eher mit. Auch als Eltern eines Teenies auf der Suche nach dem “Was-Will-Ich”, oder als Oma oder Opa, die auf Augenhöhe mit den Enkeln sind, funktioniert das sicher.
Meine eigene Schulzeit hingegen ist schon lange her, ich habe keine Kinder erzogen, selbst auch keine Eliteschule besucht und auch wenn ich Kästners Fliegendes Klassenzimmer mag, Tills Alltag hat mich nur mässig interessiert und mein Fazit fällt deshalb gemischt aus. Der sympathisch wirkende Tonio Schachinger hat einen unterhaltsam klugen Roman geschrieben, der aber einfach nicht meiner war. Ohne alle Titel, die in diesem Jahr im Rennen um DAS Buch des Jahres gewesen sind zu kennen, und auch wenn ich Schachingers plaudernden Ton und seine Sprache mochte, ich hätte nicht für diesen Titel gestimmt. Das gewisse Etwas hat mir einfach gefehlt.
Eine sehr geniale Lesung hingegen ist, von und mit dem am 31. Mai 1995 geborenen österreichischen Schauspieler Johannes Nussbaum, im Argon Verlag erhältlich. Nussbaum gestaltet Schachingers Text mit sehr viel Empathie für die Figuren und besonders die Auftritte des Herrn Lehrer Dolinar sind ihm dabei ganz hervorragend gelungen.
Schreibe den ersten Kommentar