Und auf einmal diese Stille (Garrett M. Graff)

Der Tag an dem die Welt den Atem anhielt liegt heute auf den Tag genau 19 Jahre zurück. 2.606 Menschen starben am 11. September 2001 in den Trümmern des World Trade Centers in New York. 175 Menschen starben an diesem Tag im Pentagon und 206 Menschen in entführten Passagier-Flugzeugen, die durch Attentäter zu Waffen geworden waren.

Ground Zero. So nennt man das Areal heute. Menschen aus neunzig verschiedenen Nationen kamen hier zu Tode. Mehr als 3.000 Kinder verloren am 11.09.2001 ein Elternteil. Mehr als 6.000 Menschen wurden verletzt. Unter ihnen viele Helfer, für 400 von ihnen endete dieser Hilfseinsatz tödlich.

Was an diesem Tag passiert ist, hat die Achse der Welt verschoben. 

Drei Jahre und 500 Zeitzeugenberichte lang hat Garret M. Graff recherchiert. In nahezu allen Gesprächen konnte er eine Beobachtung machen. Wen immer er mit jemandem konfrontierte, der vom 11. September erzählte, der begann unweigerlich das Gespräch an sich zu ziehen und von seinen eigenen Eindrücken und Empfindungen diesen Tag betreffend zu erzählen. Deshalb war es Graff nicht nur wichtig, die Schicksale derer in das Geschichtsbuch der Welt zu schreiben, die persönlich in die Ereignisse verstrickt waren, sondern ihnen einmal ohne Unterbrechung, ohne Einmischung Gehör zu verschaffen.

Auch ich fühle mich ertappt. Mir ergeht es tatsächlich genauso, sobald ich über den 11. September ins Gespräch komme, erzähle ich wie es mir damit ging. Auch ich weiß noch genau, wie und wo mich die Nachricht des ersten Flugzeugeinschlages erreicht hat. Starr vor Entsetzen habe ich mit Kollegen die ersten Fernsehbilder gesehen, am unteren Bildrand entlang lief immer und immer wieder diese eine Headline: USA under attack.

Was würde als nächstes geschehen? War das der Beginn des Dritten Weltkrieges? Die Angst der nächsten Stunden und Tage ist für mich noch immer greifbar. Genauso wie mein Erleben der Schweigeminute, in der weltweit alle gemeinsam in ihrer Bewegung verharrten, und in der auch an meinem Arbeitsplatz in einem großen Supermarkt diese Stille angekommen war …

Und auf einmal diese Stille von Garrett M. Graff

Die Oral History des 11. September startet mit ihrer Rekonstruktion der Ereignisse am 10. September 2001 mit dem Alltag, mit der Routine vieler in New York. Der darauf folgende  11. September 2001 war ein Dienstag, die Schulferien gerade zu Ende.

Die Türme des World Trade Centers. 415 und 417 Meter hoch, mit jeweils 110 Stockwerken, waren sie dreißig Jahre lang das Wahrzeichen von Manhattan im Herzen des Finanzdistriktes. 50.000 Menschen arbeiteten hier. Der Südturm inkl. einer Aussichtsterrasse – hier habe ich auch schon gestanden …

Die USA standen am Beginn einer Rezession, es galt dem aufstrebenden China zu begegnen und in New York hatten die Bürger-Meister-Vorwahlen begonnen. Es war noch früh am Morgen, 8:46 Uhr Ortszeit, als ein Passagierflugzeug im Sinkflug über Manhattan eine starke Kurve flog und im Nordturm des World Centers, zwischen dem 93. und 99. Stockwerk einschlug. 

Ein Amerikaner war zu diesem Zeitpunkt nicht auf dem Planeten Erde. Als Astronaut erlebte er im Zeitraum von zwei Erdumrundungen wie alle Kondensstreifen an diesem strahlenden Tag vom Himmel über den Vereinigten Staaten verschwanden. Wie eine riesige Rauchsäule von der Südspitze Manhattans aufstieg. Wie muss das gewesen sein, von oben zu sehen wie die Welt brennt, während man selbst so weit entfernt ist von seiner Heimat wie man es nur sein kann …

Alle traf es dort, wo sie sich am sichersten gefühlt haben. Wir alle haben doch das Gefühl in einem geschützten Raum zu leben, wir würden sonst ja vor Sorge verrückt werden. Niemand denkt daran, wenn er früh zu Arbeit geht, das das Gebäude das er betritt von etwa 40.000 Litern Kerosin wie von Napalm in Brand gesetzt wird. Oder daran, das an diesem Tag der überlebt, der seine Brille vor der Arbeit hat reparieren lassen müssen, oder noch ein Hemd für eine Präsentation wechseln wollte, weil es laut einer Kollegin nicht zur Krawatte passte. Alltag halt. Da gehören keine brennenden Trümmer oder auf Passanten herab stürzende Körperteile hin.

Das Kreischen der Triebwerke vor dem Aufprall, berstender Stahl, Flammen die aus Aufzugschächten schießen, das Schwanken majestätischer Gebäude, eine Konfettiwolke aus abertausenden Blättern Papier, die auf den Hudson hinaustreibt – das sind Bestandteile der Apokalypse …

Erste-Klasse-Tickets für 2.400 Dollar das Stück und Messer, Teppichmesser im Handgepäck, so kamen sie an Bord. Alles begann am Himmel über Massachusetts, hier brachten fünf Männer den American Airlines Flug 11 in ihre Gewalt. Nur 16 Minuten später hob, ebenfalls in Boston, United Airlines Flug 175 ab, auch ein Nonstop Flug nach Los Angeles, den fünf Männer nur 32 Minuten später übernahmen. 

Garrett M. Graff, geboren 1981, studierte Geschichte in Harvard. Er schreibt für die New York Times, den Esquire und den Rolling Stone. Für CNN arbeitet er als Politexperte. Er schafft es mit seinem Zeitzeugenbericht ohne Anklage, ohne Wertung, und ohne melodramatisch zu werden, in einer Sachlichkeit eine unglaubliche Fülle von Details und Empfindungen zu fassen, eine Beklemmung auszulösen, die sich nur schwer in Worte fassen lässt. Die Chronologie die er wählt, die Perspektiven die er ermöglicht, seine Rechercheleistung ist grandios.

Am 09.11.1989 fiel die Mauer. Am 11.9.2001, oder benutzt man die amerikanische Datumsschreibweise 9/11, fielen in New York die Zwillingstürme. Das sich um dieses Datum und um das Geschehen zahlreiche Verschwörungstheorien ranken, darum geht es hier nicht, auch nicht um die politischen Konsequenzen und doch, sorgt dieses außergewöhnliche Logbuch dafür, dass ich besser verstehe, was in der Folge des 11. Septembers 2001 geschehen ist.

Graff packt die Schilderungen der Menschen, ihr Mitgefühl füreinander, von einer anderen Seite an und zeigt wie für viele dieser Tag begann, eben so wie jeder andere auch. Mit Routine, Träumen, Plänen und Vorsätzen und wie er unter Staub und Asche, Blut, Leid und Tod begraben wurde.

Eindruck reiht er an Eindruck. Empfindung an Empfindung. Ohne Pathos. Wir wissen viel über diesen Tag und wir wissen nichts. Zum ersten Mal erlebe ich das Trauma dieser Anschläge nicht von außen als Betrachter, ich erlebe es von innen. Gemeinsam mit all jenen, die hier davon erzählen. Mehrfach musste ich diesen mehr als bemerkenswert choreografierten Bericht unterbrechen. Beim Abhören meiner Sprachnotizen fällt mir auf, das mir nicht nur einmal die Stimme brach …

Maler, Fotografen, Ehefrauen, Lehrer, Schüler, Banker und ein perfekter Himmel über New York, strahlend blau und mild. Ausgerechnet an das Wetter, an einen Sonnenaufgang der die Türme des Welthandelszentrums in karmesinrot tauchte, daran erinnerten sich ungewöhnlich viele.

Es sind so viele! Politiker, Polizisten, Feuerwehrleute, Angestellte, Taxifahrer, Sekretärinnen, Künstler, Piloten, Flugpassagiere, Eltern, Kinder, Freunde, FBI-Agenten, Pfarrer, Nachrichtensprecher, Reporter, Schulleiterinnen, Bürgermeister, die First Lady u. u. u.

Das dritte Flugzeug an diesem Tag traf das Pentagon. American Airlines Flug 77 und 37.000 m2 fangen sofort Feuer. 35.000 Menschen gehen in diesem riesigen Bürokomplex täglich ein und aus …

United Airlines Flug 93 am Himmel über Ohio ist das vierte Flugzeug an diesem Tag. Es, das wissen wir heute, wird sein Ziel in Washington D.C. aber nicht treffen …

Anrufe aus diesen Flugzeugen erreichen Angehörige am Boden, eine von Ihnen wird später sagen: “Wir sind die Glücklichen unter den Unglücklichen, weil wir diese letzten Worte haben.”

Die Arglosigkeit, die in all unseren Tagesverrichtungen liegt, auch ich beginne meine Tage so, übersteht man ein solches Geschehen und kann man je wieder Vertrauen fassen? Als surreal haben viele der Betroffenen die Ereignisse geschildert. Diesen Schrecken macht Graff auf eine Art und Weise nachvollziehbar, wie ihn kein Fernsehbild, keine Nahaufnahme transportieren kann. Denn er zeigt sie, diese stillen Momente und Gebete, die Stühle, die am Tisch, nicht nur an einem Tisch nach diesem Tag leer bleiben. Hört dem Mitarbeiter zu, der die Attentäter eingecheckt hat und wie es ihm damit geht. Uniformen liegen bis heute mit Brand- Blut und Kerosinflecken in Schränken. 

36.000 Blutspenden, Hoffnung, Solidarität und eine Welle der Hilfsbereitschaft die eine zerstörte Stadt fluten, aber auch zwei Kriege, die aus diesem Tag erwachsen sind, und die bis heute kein Ende gefunden haben …

Die ungekürzte Hörbuch-Fassung die hier entstanden ist, sucht mit ihren 1.041 kostbaren Minuten ihresgleichen. Für mich gehört diese Regiearbeit zum Besten was ich je im Ohr hatte. 21 Sprecher, alles Hochkaräter, verbunden in ihrem Vortrag von Torben Kessler in der Rolle des Erzählers. Er bringt die Fakten, die unfassbaren Zahlen ein, fasst zusammen. Die Sachlichkeit und die Nachdenklichkeit, die er in seine Satzpassagen legt ist sehr bewegend. Im Sprecher-Ensemble dieses traurigen Stimmballetts sind, um nur einige zu nennen, Frank Arnold, Richard Barenberg, Gabriele Blum, Erich Räuker, Sascha Rotermund, Tessa Mittelstaedt, Uve Teschner. Sie geben diesen Menschen ihre/eine Stimme, sie sorgen mit Graff dafür, dass man ihnen zuhört. Ich für meinen Teil wie im Schock … Was für ein eindringliches, was für ein eindrückliches Hörbuch, wie aufwendig diese außerordentliche Regiearbeit von Julia Ostrowski gewesen sein muss!

Das amerikanische Hörbuch The Only Plane in the Sky wurde 2019 mit dem Audie Award als Hörbuch des Jahres ausgezeichnet. Auch die deutsche Fassung ist eine Produktion die eine Auszeichnung verdient, weil sie ausgezeichnet ist und sie wird die Zeit überdauern, da bin ich mir sicher. Never forget! Meine Jahresbestenliste 2020 hat ihren Platz 1 und meine Allzeit-Besten-Hörbuchliste ebenfalls. Es ist ein Meilenstein für mich.

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