Das Klima ist unbeständig, hier wo Golfstrom und Labradorstrom sich treffen, fjord- und seenreich ist die Gegend und auch im Sommer verfangen sich in den Buchten von Neufundland noch Eisberge, was nicht zuletzt der Titanic 1912 zum Verhängnis wurde, die vor dieser Küste gesunken ist. Als Drehkreuz für Orkane kennen Metereologen diese Gegend. Hurrikane verlassen den amerikanischen Kontinent oft um als extratropische Orkane in Europa anzukommen, weiß Wikipedia.
Wer hat`s entdeckt? Die Wikinger waren es, um genau zu sein Leif Eriksson, der als erster Europäer hier an Land ging. George Cartwright, den englischen Offizier und Händler, verschlug es 1766 und 1768 nach Neufundland, nach ihm wurde eine der Siedlungen am Eingang zur Sandwich Bay benannt, an ihn, sowie an den Seefahrer und Böttcher John Nicol, lehnte der kanadische Autor, den ich heute mit dieser noch druckfrischen Neuerscheinung im Gepäck habe, zwei seiner Figuren an. Wie wäre es mit einer Zeitreise und auf eine Reise in eine Gegend die so nicht auf touristischen Pfaden bereist werden kann? Dann los, warm anziehen nicht vergessen. Hier werden Fäustlinge gebraucht, am besten sind welche aus Robbenfell …
Die Unschuldigen von Michael Crummey
Neufundland, um 1800.
Zuerst hatten sie die kleine Martha begraben müssen. Noch kein halbes Jahr alt war sie gewesen. Als ihre Mutter starb, war der Boden schon so hart gefroren, dass der Vater sie hatte dem Meer übergeben müssen. Kurz danach war auch er nicht mehr aus dem Bett aufgestanden. Fünf Tage hatten Evered und Ada ihn liegen lassen und gehofft. Gehofft, dass er vielleicht doch nur schliefe. Dann schleppte Evered den Leichnam hinaus zum Boot und ruderte hinaus, zerrte gefühlt ewig an dem starren Körper, bis die See ihn endlich annahm. Dann kehrte Evered zurück zum Haus, fiel auf sein Lager und in einen totenähnlichen Schlaf. Als er am nächsten Morgen erwachte war sein Haar weiß wie Schnee. Seine kleine Schwester erschrocken. Evered war jetzt zwölf Jahre alt und Ada zwei Jahre jünger.
Das Leben von Evered und Ada bestand fortan aus harter Arbeit, immer von der Sorge umgetrieben, zu verhungern oder zu erfrieren. In ihrer Arglosigkeit hielt man sie im entfernten Mockbeggar für einfältig, ihr Lehrmeister war die Natur und die ist ihnen ein strenger. Wer ihr unschuldig entgegentrat und nur um weniges fehlging, den strafte sie mit Hunger und dem Erfrieren …
Michael Crummey, stammt laut Verlag aus Buchans, einer Bergarbeiterstadt in Neufundland. Übersetzt hat seinen Roman, der in Kanada vielfach prämiert wurde und dort ein Bestseller ist, Ute Leibmann ins Deutsche. Crummey schaut in seinen Geschichten nicht nur zurück in und auf die Entwicklung Neufundlands, sondern ist auch sehr gegenwärtig unterwegs. So geht es in seinem Roman Sweetland um politisch gewollte Umsiedlung und ihre Folgen.
Das Duo Crummey/Leibmann hat mit Die Unschuldigen einen Roman geschaffen, der mich an einen breiten, dunklen Fluss erinnert. Zumeist fließt er gelassen, nur an der ein oder anderen Stelle stören Stromschnellen seine Ruhe, stellen sich im Felsen in den Weg, dann aber findet er rasch wieder in sein Bett und sein Tempo zurück. Sprachlich haben beide versucht in den Dialogen den Ton der Zeit bestmöglich zu treffen und diese Kombination mit der sonst eher sachlichen Erzählweise haben mir gefallen und mein Kopfkino dazu ist in schwarz-weiß ablaufen lassen.
Rau und unwirtlich ist die Gegend in der dieser Roman spielt. Zwei Geschwisterkinder und Waisen halten sich mit gefühlt weniger als nichts über Wasser. Das Schicksal springt grausam mit den beiden um. Lässt ihr Leben einer Monotonie folgen, die aus Aufstehen, Arbeiten, Schlafen besteht. Das Beschaffen von Nahrung und Brennholz ist zentraler Tagesinhalt, bis zur vollkommenen Erschöpfung plagen sich die beiden. Undenkbar ist es heute, das Kinder nach dem Tod der Eltern sich selbst überlassen bleiben. Uns verwöhnten, behüteten zeigt Crummey auf, wo wir herkommen und was in den dünn besiedelten, zersiedelten Winkeln unserer Welt vor wenigen hundert Jahren noch normal war.
Eine Geschichte nimmt ihren Lauf, die geprägt ist von Entbehrungen, eiskalt, voll von Graupelschauern und schneidendem Wind, der mir den Atem nimmt. Die Kälte die mir schon nach den ersten Sätzen in die Knochen kriecht krallt sich in mir fest, bis zur letzten Seite.
“Die Eisschollen hoben und senkten sich mit der Dünung, eine lange, geschwungene Vene aus Eisschlamm im Herzen der Bucht, im Kreis bewegt von der Strömung. Ada hechtete den Abhang hinunter zur Flutgrenze und versuchte, die Stimme zu lokalisieren, doch da war nichts als Weiß und noch mehr Weiß.”
Textzitat Michael Crummey Die Unschuldigen
Zu zweit einsam. Fast wie ein Kammerspiel. Nur blitzlichtartig sind die Begegnungen der Geschwister mit anderen, die teils an ihrer Küste stranden. Von wieder anderen sind sie abhängig. Sie kommen auf der Hope, die ihnen die Flut einmal im Jahr in ihre Bucht spült. Denn der Vater hatte ihnen auch Schulden hinterlassen, die es jetzt abzutragen galt, allein mit/durch ihrer Hände Arbeit, immer auf eine gute Fangsaison hoffend.
Fieberträume und ein Leben das auf Messers Schneide steht. Stimmen im Wind, Knochenschmuck und Lumpenpuppen. Nein, schwanger wird man nicht, wenn man nasse Füsse bekommt.
Fichtenbier und Rum. Trockenfisch und ein Streifen Ackerland, dem es ein bisschen Gemüse abzutrotzen gilt. Die Arme vom Rudern schwer, der Rücken krumm.
Fallen, Pelze und Häute von Füchsen, Robben und Bibern. Ein Schuß. Ein Treffer. Eine tote Schwarzbär bringt genug Fleisch für den Winter. Das Gewehr defekt, ihr Junges taumelt blind und brüllend umher. Mich zerreißt es beinah’. Aber da muss ich wohl durch, hier geht es um’s nackte Überleben.
Ein Brudermord. Liebe das Motiv? Ein Schiff auf Eis gelegt. Wertvolles Treibgut an der Küste. Verfeuerte Planken. Eine Wanderung über Tage bis hierher. Das Grauen hat sich unter Deck eingenistet, aber Evered ist ihm dennoch begegnet …
Wenn man nur einander hat, dann hat man nur einander. Eifersucht. Ein Gefühl das Evered nicht benennen kann, und doch ist es da. Nagend, bohrend und ihn von innen aufzehrend. Diese Seeleute, deren Mast gebrochen ist und die auf der Suche sind nach einem Baum der ihn ersetzen kann, sie sind derb und laut. Er soll sie führen, den Schwarzbärenfluß hinauf. Einer von ihnen scheint bemerkt zu haben, das Ada obwohl sie in Hosen steckt, kein hübscher Junge ist …
Johlend und gröhlend am Lagerfeuer, ein Kessel Krabben dampft auf den Flammen. Der Mast ist geschlagen und bald werden sie wieder fort sein. Ihre Lieder aber würde Evered sich behalten, ihre Geschichten auch und in Ada hat dieser eine Seemann den Wunsch geweckt lesen zu lernen und nicht nur das.
In Crummeys Geschichte wartet eine brutale Natur, die in ihrer Kargheit wunderschön ist und die denen die hier leben alles abverlangt. Ärmlich und auf sich zurück geworfen, wachsen hier zwei Menschlein heran, die versuchen sich aneinander festzuhalten, die sich alsbald auch ihrer Sexualität bewusst werden. Ein Tanz auf dem Vulkan beginnt, gesteuert von Instinkten und einem Urglauben, von Werten, die ihnen mit der Muttermilch eingegeben worden sein müssen. Denn ist ja keiner hier sie zu lehren.
Man nehme einen Hauch Seefahrer-Romantik, tiefe Verbundenheit, die Zerrissenheit zweier Kinder-Seelen, ganz viel unberührte Natur abseits gewohnter Schauplätze, klimatische Bedingungen, die mir die Nasenhärchen beim Lesen gefrieren lassen und gebe sie mit einer Comming-Off-Age Geschichte in einen Schüttelbecher. Et voilà: Die Unschuldigen. Eine gute Geschichte, eine die man sich am Kamin oder am Lagerfeuer erzählen kann, ehrlich, authentisch und stimmungsvoll. Hätte es vielleicht noch ein weitere Erzählebene gegeben, die den Strom der Vorhersehbarkeit gebremst hätte, oder ein paar Verästelungen, die die geradlinige Chronologie gebrochen hätten, dann wäre es für mich eine sehr gute Geschichte.
Ihr lauernder Ton ist es gewesen, der mich beständig am Lesen gehalten hat. Die Zwangsläufigkeit der Ereignisse ist es dann, die auch meinem Herzen am Ende einen Sprung beibringt. Wie könnten sie denn Schuld haben an dem was geschieht? Was geschehen musste. Niemand hatte ihnen beigebracht Schuld zu empfinden und trotzdem entwickeln die Geschwister Gefühl dafür, was richtig ist und was nicht. Empfinden Scham und Reue, als wäre das immer schon in uns Menschen angelegt …
“Pisse und Verderbnis” würde Ada fluchen und recht hat sie …
Mein Dank geht an den Eichbornverlag für dieses Rezensionsexemplar.
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