Zugvögel (Charlotte McConaghy)

“Vergiss die Sicherheit. Lebe, wo du zu leben fürchtest.”

RUMI

Sie hält den Weltrekord im Vogelzug. In ihren dreißig Lebensjahren legt sie eine Wegstrecke zurück, die etwa dreimal so lang ist wie der Hin- und Rückweg zum Mond. In jedem Jahr ist sie unterwegs von der Arktis in die Antarktis und wieder zurück. Über den Nordatlantik, an der Küste von Amerika entlang von Norden nach Süden. Wie kann ein so kleines, zartes Tierchen, das zwischen 80 und 125 Gramm wiegt, das bloß schaffen? Forschern gibt sie Rätsel auf. Die Küstenseeschwalbe. Sie fasziniert nicht nur die Heldin in dieser Geschichte, die der Frage nachgeht wie der fortschreitende Klimawandel ihre Flugroute verändert, sondern spätestens jetzt auch mich …

“Unser gemeinsames Schweigen ist erfüllt von der Schönheit zarter weißer Flügel, die ein kleines Lebewesen so weit tragen.”

Textzitat Charlotte McConaghy Zugvögel

Zugvögel von Charlotte McConaghy

Aufwachsen am Meer. Lieber draußen als drinnen sein. Geboren als Franny Stone in einer australischen Kleinstadt, von einer irischen Mutter. Ohne Geld und alleine war ihre Mutter hier hängen geblieben. Eine Überlebenskünstlerin offenbar. Ihr zweites Zuhaus eine Bibliothek, das und die Geschichten ermöglichte ihnen fortzugehen ohne wirklich fortzugehen, was sie sich nicht leisten konnten. Bis zu diesem Tag. Fran ist zehn und hat sich eben verliebt, in einen Jungen, der ihr eine Geschichte schenkt, als sie eine Mutter verliert …

Ein schwerer Sturm, ein gesunkenes Schiff, die Mannschaft ertrinkt, bis auf zwei Männer. Die sich erst am Mast und dann aneinander festhalten. Drei Tage lang. Aber selbst hiernach können beide nicht vom Meer lassen. Sie stechen wieder in See und treffen auf sie. Die Frau mit dem Vogeltick …

Charlotte McConaghy, geboren 1988, Autorin mit irischen Wurzeln, wuchs in Australien auf. Heute lebt sie in Sydney, hat einen Abschluss als Drehbuchautorin. Zugvögel ist ihr literarisches Debüt.

Was ist das mit dieser Franny? Gefängnis. Mit wem habe ich es hier zu tun? In ihrer Vergangenheit muss der Schlüssel liegen. Geschickt schachtelt McConaghy ihre Geschichte wie eine Matroschka-Puppe, Schicht um Schicht, und ich komme dem Kern immer näher. Eine ganz eigene Dynamik entwickelt sich aufgrund dieser Erzählweise.

Eine schöne, eine melodische Sprache findet diese Autorin und ich glaube, alle die Offene See von Benjamin Myers mochten, denen werden auch ihre Zugvögel gefallen. Mein Herz hat hier sogar noch ein klein wenig lauter geklopft, weil es nicht ganz so romantisch zugeht, weil diese Geschichte im Gesamtkontext des Klimawandels steht, in einer nicht weit entfernten Zukunft. Alles wilde Leben gilt als ausgerottet. Es gibt keine Großkatzen, Menschenaffen, Bären oder Wölfe mehr, vielleicht noch Kakerlaken. Die entwickeltste aller Arten, der Mensch hat mit seiner Lebensweise dafür gesorgt, das die klimatischen Bedingungen sich dramatisch verändert haben. Nicht ohne Auswirkungen für diese Spezies selbst …

McConaghys wehrhafte Heldin heuert allen Widrigkeiten zum Trotz auf einem Hochseeschiff an, die Mannschaft die sie aufnimmt, nicht weniger widerstrebend, ist eine verschworene kleine Gemeinschaft von Fischern. Aber – es finden sich kaum noch Fische, viele Häfen wurden schon geschlossen. Wenn man den Vögeln folgte, würde man dann auch wieder Fische finden? Führt ihr Überlebensinstinkt sie nicht genau dorthin? Also Fran weiß da argumentativ zu überzeugen.

Saghani, heißt der Rabe, dieses Schiff war ihr bestimmt. Es musste so sein. Den Geruch von Salz und Algen in der Nase. Man konnte auch an Land ertrinken, an seinen Sorgen ersticken. Gut, wenn das jemand erkennt, es schafft einen wieder zu Atem kommen zu lassen. Ich steche mit der Saghani in See.

Mit den Küstenseeschwalben bin ich unterwegs bis in die Arktis. Habe Franny mit ihren zwei amputierten Zehen und Männer in Kneipen getroffen, unter deren Fingernägeln sich der Dreck eines ganzen Lebens eingegraben hat. Besoffene nüchtern sich hier in eiskalten Fluten aus. Raues Wetter. Raue Sitten. Bei einem Abstecher nach Irland habe ich dann das Gefühl ich bin inmitten der Kelly – Family gelandet. Musik erklingt, Instrumente spielen auf. Eine große Familie sitzt um den Tisch, nimmt Franny, die Ausgewanderte, die Rastlose bei sich auf.

“Wir blicken auf das Meer, warten auf das Land und wünschen uns doch niemals dort ankommen zu müssen.”

Textzitat Charlotte McConaghy Zugvögel

Fran ist auch ein Zugvogel, es hält sie nirgendwo lange, der Wind wirbelt sie immer wieder auf wie ein Blatt, treibt sie vor sich her. Man kommt weit rum mit ihr in dieser Geschichte. Nach Australien, Schottland, Irland, Norwegen, Grönland, Neufundland, Argentinien, in den Yellowstone Nationalpark und last but not least –  in die Antarktis. 

Entbehrungsreich und herausfordernd sind diese Touren. Aber Fran Stone ist eine Kämpferin, kann ganz schön was einstecken. Dafür mochte ich sie und dafür, dass sie nicht aufgibt. Ihr Ziel in aller Konsequenz verfolgt, mit ihrem wilden Herzen, mit ihrer brennenden Leidenschaft für alles was zart ist und gefiedert, mit ihrer bisweilen ungestümen Art. Überzeugte Vegetarierin, Self-Made-Ornithologin. Zu unerfahren für die Seefahrt, macht sie mit Engagement wett was ihr an Wissen fehlt. Handfest, nicht immer seefest, mutig, nein wagemutig.

Vielleicht konnte ich Frans Liebe für die Vogelwelt auch deshalb so gut verstehen, weil auch ich mit Ihnen aufgewachsen bin. Mein Vater liebte sie, ebenso wie Fran, um mich herum hat es als Kind immer gezwitschert. Sogar einen Raben haben wir mit der Hand aufgezogen, bei einem Brand war er als Waise übrig geblieben. Heute freue ich mich über zahlreiche geflügelte Besucher in meinem Garten, und es werden wieder mehr, vielleicht weil ihnen meine Futtermischungen schmecken und unser Brunnen an heißen Tagen für ein Bad wie geschaffen ist …

Ein Tanz in Wellentälern, der Atlantik bäumt sich auf. Kollisionskurs mit einem Eisberg vor Grönland und dann – aus einem knirschenden Ruck wird ein heftiger Aufprall. Das Reich der Mitternachtssonne verlassen und wieder eintauchen in die Nacht.

Schöne Bilder hat es hier, von wehenden Brisen, segelnden Vögeln, sturmumtosten Buchten, Eisbergen, Gischt, Wellen und Federn. Da merkt man ganz die geübte Drehbuchautorin, so herrlich bildhaft ist das. Auch bei ihren Randfiguren zeichnet sie mit Ecken und Kanten, lebens- und waschecht wirken sie. 

Eine Geschichte wie das Meer selbst. Wechselvoll, mal mit sanftem Wellenschlag, mal ungezähmt. McConaghys Sprache und auch die Übersetzung von Tanja Handels fand ich bezaubernd, das ohne den Orignaltext zu kennen. Poetisch ist diese Übersetzung und erfüllt von einer Grundmelancholie, ich schmiege mich an diese Sätze und schnurre wie ein Kätzchen.

Kritiker werden vielleicht sagen, es fehlt der Geschichte an Tiefe, wenn es um die Ursachen für den Klimawandel geht, weshalb mich dieser Roman sehr an Maja Lunde erinnert hat. Die auch jeweils nur die Auswirkungen, das in unterschiedlichster Ausprägung zu ihrem Thema machte. Mir genügt das, ich war nicht auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Abhandlung.

Hier braucht es keine Diskussion mehr über das Warum, kein moralisieren, weil es nicht mehr veränderbar ist, wenn man zerstört hat was zerstört ist. Vertan ist dann jede Chance, von dieser Seite aus betrachtet, lehrt uns McConaghy das Vermissen und so das Wertschätzen von Natur und wildem Leben.

Eine Geschichte wie geschaffen für den Herbst, für diese Zeit in der das Licht sanft ist die Konturen weich werden. Die Natur beginnt sich zurückzuziehen, Kraft zu sammeln, um einen neuen Anlauf nehmen zu können, dann wenn die Strahlen der Sonne wieder wärmer werden. Über meinem Zuhause ziehen jetzt die Kraniche gen Süden, hier sagen wie die “Halgänse”. Man hört sie, lange bevor man sie im V-Formationsflug am Himmel erkennen kann. Das ist eindeutig meine Jahreszeit! Eine wärmende Decke eine dampfende Tasse mit Kakao oder Tee in der Hand und dieses Hörbuch auf den Ohren.

Mal ist die Stimmung heiter und federleicht, mal traurig. Es hat Wirbel und Untiefen und auch eine ganze Angstwelt. Ich habe nichts zu meckern und suche auch nicht danach. Habe mich einfach fallen lassen in diese Geschichte. Bäuchlings, rücklings, wie auf ein Daunenbett. Das mich wärmt hier in der Eiseskälte dieses Finales. Das mich schmerzt, bis auf die Knochen. Hörerinnen – Herz was willst Du mehr, mehr von ihr auf jeden Fall …

Eva Meckbach, geboren 1981, spielt an der Berliner Schaubühne, 2017 war sie nominiert für den Deutschen Hörbuchpreis mit David Vanns Aquarium (muss ich noch hören!) und 2019 gewann sie ihn dann für Deutsches Haus von Anette Hess. Mit ihrer sanften Stimme und ihrer Stimmfarbe passt sie ausgesprochen gut zu Fran Stone und dieser Geschichte. Ganz ohne Anklage, dafür mit viel Wärme und Nähe zu den Figuren liest sie, klar und angenehm. Nimmt mich mit auf diese wunderbare Reise in die äußersten Zipfel der Welt, ungekürzt 9 Stunden und 52 Minuten lang.

Mein Dank geht an den Argon Verlag für dieses Hör-Exemplar:

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