ULTRAFANTASÍA (Alfonsina Storni)

Wer war diese Alfonsina Storni? Gibt man ihren Namen in eine Internetsuchmaschine ein, erfährt man, dass man in Argentinien ein Lied über sie kennt. Das sie so konsequent im Leben war wie im Tod und sich durch einen Sturz ins Meer ertränkte, an einer Brust-Krebserkrankung leidend. Geboren laut Taufurkunde am 22. Mai 1892, ausgewandert als Kind mit den Eltern von der Schweiz nach Argentinien, wo der Vater 1901 am Fuß der Anden ein Café eröffnete, mit dem er 1904 Pleite ging. Kaum jemand kennt sie noch in der Schweiz, das obwohl die ausgebildete Lehrerin Storni auf eine so beeindruckende Art und Weise ihre Stimme zu erheben verstand. Insgesamt neun Lyrikbände, Theaterstücke und zahlreiche Prosatexte wurden von ihr veröffentlicht, quasi noch druckfrisch ist aktuell diese Sammlung von Lieblingsgedichten Stornis zu haben, die auch bisher noch unveröffentlichtes Material enthält.

Dazu befragt, welche ihrer Gedichte ihr die liebsten sind, gab Storni einmal an: Alle, die sie ab dem Band Ocker (1925) geschrieben habe. Die meisten meiner Lieblinge habe ich in dem Band mit dem Titel Matt entdeckt, eines davon ist dieses hier:

Durchgestrichen

Wenn ich sterbe, 
wird die Nachricht meines Todes
den ganz normalen Gang nehmen.
Man wird von Büro zu Büro gehn,
in Karteien und Registern nach mir sehn.

Weit, weg in einem Dörfchen,
das in der Sonne am Berghang schläft,
macht eine Hand, die ich nicht kenne,
durch meinen Namen einen Strich.

Alfonsina Storni - Matt

Ich atme ihre Liebesgedichte ein – Poemas de amor. Wie das klingt! Dachte ich noch vor dem Lesen, mit meinen paar Brocken Spanisch werde ich nichts davon haben, das man in dieser Ausgabe rüberschielen kann vom spanischen Original zur deutschen Übersetzung, denn erstmalig stellt die Nr.9 der edition maulhelden die Gedichte von Alfonsina Storni einander gegenüber, im Spanischen und im Deutschen. Wie Frau sich doch irren kann! Eine unbändige Freude hat sich in mir breit gemacht, mir die Worte Stornis auf der Zunge zergehen zu lassen, auch wenn ich nicht jedes im Spanischen verstanden habe. Weich und getragen klingen sie im Original, manchmal herb in der Übertragung von Hildegard E. Keller, was sehr stimmig ist, denn Liebesgedichte sind bei Storni nicht zuckrig romantisch, sondern sehnend und wahrhaftig, oder wie Alfonsina sagt: “schlichte Sätze über Zustände der Liebe …”

Ich will schwer in dir wiegen, dir mein Leid aufladen,
damit du mir nicht entfliehen kannst.
Denn niemand, der das Gewicht meines Schmerzes trägt, kann mir entkommen.

Alfonsina Storni - Poemas de amor

Hildegard Keller hat in diesem Fall nicht nur übersetzt, sondern auch kuratiert, ganz wunderbar illustriert, und für die Verse nebst Hintergrundinformationen den Umschlag dieses haptisch und optisch hinreißend schönen Büchleins gestaltet. Eine Ausgabe, die man immer wieder gerne zur Hand nimmt, um darin nach seinen persönlichen Lieblingsgedichten zu suchen.

Chronologisch nach den Schaffensphasen von Storni sind sie zusammengefasst, es ist herrlich zu erlesen, wie sich ihr Dichten gewandelt hat, welche Themen sie wann eingenommen haben und wie wunderbar die sogenannte “gebundene Rede” eben doch für sie passte. Für sie, die sich nicht von Konventionen auf ihrem künstlerischen Weg beirren ließ, auch und besonders nicht als Frau jener Zeit. Das Wort Ultrafantasía erfand sie schlichtweg, es gehört zu ihrem Gedicht Was würden sie sagen, sie beschrieb mit ihm die Vorstellungskraft jenseits von Eingeübtem und gesellschaftlich Normiertem. Gleich noch einmal benutzt sie “Ultra” als Verstärker und für eine eigene Wortschöpfung, kreiert das Ultrateléfono, nutzt den so erdachten Apparat als Vehikel, um in ihrem Gedicht gleichen Namens mit Verstorbenen zu telefonieren. 

Frieden, vielleicht war sie auch danach auf der Suche, mich jedenfalls hat ihr Gedicht mit diesem Titel als erstes förmlich angesprungen und von seiner Sanftheit fühlte ich mich wie gestreichelt:

Frieden

Gehen wir zu den Bäumen, den Traum
wird uns der Himmel schenken.
Gehen wir zu den Bäumen, 
die Nacht wird lau sein, die Traurigkeit leicht.

Gehen wir zu den Bäumen, die Seele
wird schläfrig vom wilden Duft.
Aber leise, sprich nicht, gib acht
und weck die schlafenden Vögel nicht.

Frieden hat sie zwischen 1916 und 1919 geschrieben, da war Alfonsina vierundzwanzig Jahre alt und später sollte sie, die Gedichte aus der Zeit ihrer Anfänge, ihr erster Lyrikband erschien 1916 und trägt den Titel Die Unruhe des Rosenstocks, als mit zuviel “romantischem Honig überzogen” ablehnen. Die Wölfin und auch Du willst mich rein stammen neben Frieden aus dieser Zeit und ich mochte sie alle, hätte sie nie als zur romantisch verteufelt.

Hildegard E. Keller die Handverleserin dieses schönen Gedichtbandes ist Germanistin, Hispanistin, freie Autorin, Filmemacherin, Verlegerin, Literaturkritikerin, Professorin und Podcasterin von alfonsinastorni.ch, war zehn Jahre lang Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, Mitglied im Literaturclub des Schweizer Fernsehens. Ihr Debüt-Roman Was wir scheinen über Hannah Arendt, erschien 2021 bei Eichborn, listet am Ende ihres Bandes von Storni-Gedichten neben den Quellen auch die Lebensstationen dieser beeindruckenden Dichterin auf. Wie sehr sie ihr am Herzen liegt, wie sehr sie mit dem Werk dieser Frau verbunden ist, spürt man in ihrem Nachwort. .

Dieses Nachwort ist es auch, dass ich bereits nach den ersten Gedichten lese und das mir hilft einen Zugang zu Storni zu finden. Es ordnet vieles für mich ein. Keller stellt darin als Kennerin von Stornis Werk Zusammenhänge her, die wichtig sind um zu verstehen was Storni, deren Lyrik auf mich so wechselhaft wirkt wie das Wetter im April, zeitlebens umgetrieben hat. So ist für mich als Storni-Laie ein vielschichtiger Querschnitt des Wirkens dieser Frau entstanden, der man zuschreibt, dass Tod und Suizid sie immerzu beschäftigt und ihre Texte geprägt haben. Ihr nur das zu bescheinigen, wäre aber zu kurz gesprungen. Der Poesie hielt sie die Treue, für sie schuf und lebte sie, autobiografisches hat sie verarbeitet und ein wunderschönes Zitat, das ich sehr mochte, ist von ihr überliefert, es sagt soviel aus darüber, wie diese Frau ihr eigenes Schaffen betrachtete: “Es hat etwas Gutes, ein Gesamtwerk von hoher Warte überblicken zu können, auch wenn dieses Panorama manches zeigt, das eher ein Dokument des Lebens als ein Kunstwerk ist. Am Horizont kann man erkennen, wie die Ströme herannahen, ins Flachland fließen, dort versiegen oder versickern, um nach unterirdischem Lauf wieder an die Oberfläche zu treten und einen kleinen See zu bilden.” (CARDO, 212).

Wenig bis nichts reimt sich bei Storni, mal stolpere ich durch ihre Sätze, mal halten mich die Widerhaken ihrer Wehrhaftigkeit auf. Nichts trägt die Stimme der Zeit so zu uns wie ein Gedicht. Nie habe ich das deutlicher gespürt als bei Alfonsina Storni. Nur Lyrik kann Gefühle so auf den Punkt bringen. Sie konnte genau das auch. Ich übersähe das Büchlein mit Post Its.

Man muss sich fallen lassen, führen lassen von ihr, durch ihre Gedanken. Vieles hat Ecken und Kanten, aber das soll es auch. Diese Texte konsumiert man nicht einfach so, sie haben die Eigenheit sich im Kopf quer zu stellen. Manchmal wird es mir auch zu viel. Dann lege ich das Buch aus der Hand, dann wieder ist mir danach. Mich auseinanderzusetzen. Mit ihren stürmischen Wortwelten. Mit dem Spiegel einer Zeit, die mir fremd ist. Dem zu folgen, was Storni damals wie heute zu sagen hat, hat mich in der Form wie sie es tut, herausgefordert. Mich weit aus meiner Komfortzone geholt. Mir Kontrapunkte gezeigt. Mich Mühe gekostet. Eine die sich gelohnt hat. Sehr sogar.

Danke Frau Keller, Danke liebe Birgit Böllinger, Du weißt wofür, bist mir oft schon eine wertvolle Tippgeberin gewesen. Ihr beide habt mich erkennen lassen, wie bereichernd es ist, Autor:innen wieder Raum zu geben, die die Zeit mit ihrer Zeitlosigkeit überdauert haben.

Mit dem Gedicht, das Alfonsina Storni zwei Tage vor ihrem Freitod geschrieben hat und das als ihr literarischer Abschied gilt möchte ich enden und ihr auch in diesem Beitrag das letzte Wort überlassen.

Ich geh schlafen

Zähne aus Blüten, die Haube aus Tau,
Hände aus Kräutern, du, meine feine Amme,
bereite mein Bett, mit Laken aus Erde
und einer dicken Decke aus gezupftem Moos.

Ich geh schlafen, meine Amme, deck mich zu,
stell mir eine Lampe ans Bett,
irgendein Sternbild, das dir gefällt,
alle sind recht, ein wenig näher bitte.

Lass mich allein. Du hörst die Knospen aufspringen,
von oben wiegt dich ein Himmelsfuß
und ein Vogel zeichnet eine Melodie dazu,

damit du vergisst ... Danke. Ach, noch eine Bitte:
Wenn er noch einmal anruft, sag ihm,
er solle es sein lassen, ich sei nun fort.

Voy a dormir, nodriza mía, acuéstame.
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