Alte Mädchen (Julia Wolf)

Oft habe ich mich gefragt, welche Bilder meine beide Großväter in sich abgelegt hatten. Vom Krieg. Aus der Gefangenschaft. Von der Vertreibung. Aus Ostpreußen. Der Eine kehrte heim, wachte am Tag danach auf mit schlohweißem Haar. Ich kannte ihn nur so. Lernte ihn so kennen. Schweigsam. Meine Oma Anna muss ihn auch anders gekannt haben. Beide sprachen sie nie davon. Nicht vor uns Kindern. Mein Großvater mütterlicherseits vermisste seine Marienburg zeitlebens. Brach lange nach dem Tod seiner Frau und als schon alter Mann noch einmal auf, dorthin wo er hergekommen war. Um abschließen zu können. Als Teenager habe ich erlebt wie es ihm damit ging. Spürte wie sehr er vermisste. Vielleicht hat mich der aktuelle Roman von Julia Wolf deshalb so berührt, mit Sicherheit hat er das, weil er so ausgesprochen besonders erzählt ist …

Alte Mädchen von Julia Wolf

Sechs Wochen geben die Ärzte Else noch. Jetzt sitzt sie da mit dem Nerz über dem Nachthemd, hat Rouge aufgelegt, will gut aussehen bis zum Schluss. Ihre Freundinnen Anni und Hannelore finden, sie sei immer schön gewesen, kurz vor dem Ende aber, riecht man es ihr an, dass es nicht mehr lange dauert. Nicht mehr ganz frisch. Trotz ihrer Nivea. Riecht sie. Trotzdem findet die Heimleitung, sind die drei alten Mädchen, noch dazu allesamt Fangirls von Germanys Next Topmodel, wie gemacht dafür als Werbeträgerinnen für die Einrichtung aufzutreten. Altwerden ist nichts für Feiglinge. Wenn einer den Beweis dafür antreten konnte, dann diese drei. Ein Slogan wird geboren, “So schön kann Alter sein”.

Herrlich schrullig und eigenwillig hat Julia Wolf die Figuren in diesem ersten Teil ihres Romans angelegt, bei mir trifft das sofort einen Nerv, ich lehne mich zurück und lasse mich ein.

Leichenwagen vorm Haus, letztes Geleit, Bernstein im Licht, wenn man ihn dreht sieht man den Einschluss, die Zeit gefangen in einem Tropfen Harz, Erinnerungen an damals. An ihre Heimat. Ostpreußen. Aus der Heimat vertrieben. Es führt kein Weg zurück. Ausflüge über Google Maps, in die Vergangenheit. Dorthin, wo man herkommt.

Schmetterlinge rumpeln im Bauch, noch einmal verliebt sein. Vielleicht in den Friseur? Verschmäht werden. Den Vorzug erhält Ottilie mit ihrem honigblonden Haar. Enkelinnen zu Besuch in zerrissenen Jeans und mit grünen Haaren. Ich lache laut auf. Diese Gedankenwechsel! Ich komme ihnen kaum hinterher.

Aufarbeitung, bohrende Fragen, brennende Schuld, Vergangenheit. Eine Aushilfe im Altenheim spricht aus, was wohl alle denken. Denken Sie …

Einfach zu nett. Das war er gewesen, der Frank. Am Ende ein Schwindler sogar. Am Anfang wohl auch, was aber unbemerkt blieb. Zu sehr hatte sich Gerlinde verliebt. Hals über Kopf und das in ihrem Alter. Auf niemanden mehr gehört. Auch auf ihre Schwester nicht.

Oma ist tot. Tante Gudrun ruft an. In Kambodscha bei ihrer Nichte, die nie zurückruft. Landet auf der Mailbox. Vermutlich. Es wird ein langes Gespräch, das keines ist. Weil die Nichte geht nicht ran. Wie immer. So viel ist passiert und nichts von alledem kriegt sie mit, die Tochter von Gerlinde. In Kambodscha. Sie erfahren nichts von ihr, wie es ihr geht, ob sie genug verdient, ob sie zurechtkommt. In Kambodscha. Die Mutter und die Tante. Sie könnte ebenso gut auf dem Mond leben. So weit sind sie gefühlt voneinander entfernt.

Kratzbürste. Ein Wort macht den Anfang und schon ist es vorbei mit der stillen Runde beim Trauerkaffee und den Mohnkuchen, den hatten sie auch vergessen.

Muttis Laune, unser Wetter, sagt Gerlinde und hat sie im dunklen Badezimmer eingeschlossen, wo sie tobte. Wie ein Sturm. Testament geändert. Aus der Traum vom Neuanfang. 

Die Unterschiedlichkeit mit der Wolf ihre Geschichten innerhalb ihrer Geschichte inszeniert, lässt sie leuchten. Taghell, auch in ihren finsteren Sequenzen, die alle Teile des Romans unterschwellig begleiten. Die des Pudels Kern ausmachen. Was besprechen wir und mit wem?

Im Teil drei bleibt nichts wie es ist. Kryptisch ist dieser mit MILF überschrieben. Ein Geheimcode dreier Freundinnen, die das Leben auseinanderzutreiben versucht. Eine Schwangerschaft verändert alles. Für Jenny, die werdende Mutter. Ihre Freundschaften. Ihre beiden kinderlosen Freundinnen. Unzertrennlich, eine Art Geheimbund waren sie gewesen, kein Blatt hatte zwischen sie gepasst. Jetzt schien alle Sorglosigkeit verflogen. Die Stille in den Nächten war dröhnend laut, und Jenny immerfort auf der Suche nach dem Herzschlag ihres Kind. Hatte Angst, wo vorher keine war und die anderen beiden hatten keine Zeit. Für sie. Meint sie. Plötzlich müssen sie sich fragen, was sie noch gemeinsam haben. Wollten das nie. Tao, Undine und sie.

Ich spüre mich in meinem Leben“. Was für ein Satz, und wie wunderbar wenn man meint was man da sagt.

Die Fruchtblase geplatzt. Cut und Ende. Also ich hätte ja noch ein Weilchen zuhören können, versuche mich jetzt mit diesem abrupten Ausgang der Geschichte 3 von 3 zu versöhnen. Um Alte Mädchen als Roman zu begreifen fehlte mir am Ende die Klammer, als für sich stehende Erzählungen finde ich eine jede gelungen und mein Liebling bleibt unangefochten Gudrun mit ihrem Anruf auf Mailbox, in Kambodscha!

Julia Wolf, geboren 1980 in Groß-Gerau, deutsche Schriftstellerin, ausgezeichnet mit dem 3sat-Preis beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb 2016 für ihren Text <Walter Nowak bleibt liegen>, ein Auszug aus ihrem zweiten Roman, hat mit ihrem aktuellen, der am 15.9.22 in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen ist einen schwierigen Spagat geschafft. Den, zwischen wohl eingesetztem Humor und dem angemessenen Ernst in der Sache. Denn es geht um viel. Es geht um die Vergangenheit und um die Zukunft. Für alle Beteiligten. Wie Wolf ihre Protagonistinnen stilistisch zurück in ihre eigene Geschichten führt, dafür applaudiere ich ihr stehend.

Melanie Straub, geboren 1976 in Waiblingen, deutsche Schauspielerin, hat den Text für hr2-kultur eingelesen. Die Lesung war ungekürzt bis 12.11.2022 in der ARD Audiothek abrufbar und sie hat fraglos mehr als den richtigen Ton getroffen. Ganz wunderbar empatisch trug Straub diese drei Schickalsberichte vor, die Julia Wolf zusammengewürfelt hat. Das Hören hat mir große Freude gemacht und ich bin als Vielhörerin immer dankbar für solch kostenfrei erlebbaren Produktionen der Öffentlich-Rechtlichen. Zumal man hierbei immer auf Qualität setzt. So auch diesmal.

Straub interpretiert den Text von Julia Wolf ganz wunderbar. Aus den wie Mikadostäbchen hingeworfenen Sätzen, die die Gedankenfetzen, nicht nur der drei Heimbewohnerinnen, auf eine warmherzige und augenzwinkernde Art wiedergeben, macht sie ein wahres Feuerwerk an Emotionen. 

Julia Wolf, bleibt dabei Meisterin der kurzen Sätze, präzise andeutend, mit leiser Lakonie und der exakt richtigen Dosis Drama baut sie ihre Szenen auf und zusammen. Ihre Figuren wachsen über sie und sich hinaus. Ihre Interpunktion finde ich grandios, beinahe jedes Satzende wirkt wie ein neuer Startpunkt. Los geht’s mit einem neuen Gedanken, einer alten Geschichte, einer Erwartung.

Nicht alles will man wissen, vieles lieber vergessen. Was nicht ausgesprochen wird, ist nicht wahr. Vielleicht. Nach dem Krieg ist vor einem anderen Leben. Auf unterschiedliche Art hat das Personal von Julia Wolf einen Krieg bewältig, hat verdrängt, Erlebtes beschwiegen. Auch wenn es Streit gab, in der Familie, über Großväter und ihre Taten, die nicht mehr mit den Lebenden besprochen werden können. Nur recherchiert, was für verheilt geglaubte Wunden und das Zusammenleben im Jetzt eine Prüfung ist.

Wie eine Patchwork-Decke wirkten “die alten Mädchen” auf mich, wärmten mir Herz und Seele. Genau richtig, aber nicht nur für den Herbst und die herrliche Unverblümtheit mit der Wolf ihr Personal berichten lässt, über Alltägliches, Vergangenes und Erhofftes, ist so kurzweilig, das man beinahe übersieht, was sie zwischen den Zeilen stehen lässt. Aber nur beinahe. Das ist ganz wunderbar!

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