Der Umzug – Eine Kurzgeschichte

von Petra Kuhn

Erst war es nur ein kleiner Fetzen, der sich unter ihren Fingern löste. Als sie etwas fester zog wurde der Tapetenstreifen rasch größer und darunter kam das Muster einer anderen Schicht zum Vorschein. Es zeigte eine blassrosa Blüte mit leicht vergilbtem Rand, wodurch die Blume wie verwelkt wirkte.

Sie hielt inne, mit der Spachtel in der Hand. Wie viele Lagen wohl auf dieser Wand aufeinander klebten? Wie viele Geschichten sich wohl über die Jahre zwischen ihnen angesammelt hatten? Was hatten sie aufgesogen an Streit und Lachen? Was konnten sie alles bezeugen? Wem hatten sie zugehört? Wer hatte so wie sie geflucht und dem Abkratzen der vom Vorbewohner so heißgeliebten Alttapete dann doch abgeschworen.

Ein Umzug allein war schließlich schon ein Kraftakt, aber irgendwie immer auch eine Erleichterung. Man schleppte Kisten und warf zugleich Ballast ab. Nie hatte sie alles mitgenommen aus einer alten Wohnung, plötzlich war es ihr leicht gefallen sich zu trennen. Von liebgewonnenem Tand, von lange nicht getragener Kleidung, von angeschlagenen Tassen und von Tellern, die vom häufigen spülen in der Maschine schon ganz rau geworden waren.

Dieses Mal war es nicht anders, dabei wünschte sie sich, dass es so wäre. So sein könnte. Das sie diesmal gekommen war, um zu bleiben. Für länger zumindest. An ein für immer wollte sie nicht denken. Dabei war sie keine Vagabundin. Dafür igelte sie sich, einmal angekommen viel zu gerne ein.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken und nach dem Öffnen, sah sie sich einem älteren Herrn gegenüber, der sich ohne Umschweife an ihr vorbei in die Wohnung drängte, auf die zahlreichen unausgepackten Kisten schaute und dann mit hochgezogenen Brauen auf sie.

Mein Name ist Hoffmann hörte sie ihn sagen, Ernst Hoffmann, als würde das Nachschieben seines Vornamens, seinem unaufgeforderten Eintreten eine besondere Dringlichkeit verleihen oder es gar rechtfertigen. Das tat es nicht im Mindesten und sie wollte schon protestieren, da hob Herr Hoffmann entschuldigend beide Hände.

“Wissen Sie, sagte er jetzt, ich habe früher hier gewohnt, bevor meine Rente zu klein und die Wohnung zu groß geworden ist, die Aussicht vom Balkon vermisse ich bis heute, und den Wind, den man im Erdgeschoss einfach so gar nicht spürt, den auch. Er war mir immer ein Mitbewohner gewesen. Wenn Sie die Balkontür offen lassen trägt er ihnen nicht nur trockenes Laub herein, sondern auch die Geschichten der Straße. Man ist hier oben nie allein, wussten Sie das?” Während er sprach, war er ins Freie gelaufen und sein Blick richtete sich auf etwas in der Ferne, das offenbar nur er sehen konnte. Er hatte zu reden aufgehört.

Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Es wird nur ein löslicher, aber ich könnte jetzt gut eine Pause vertragen. Irgendwie musste sie ihn vom Geländer wegkriegen. Am Ende war er nur gekommen, um da runter zu springen? Nach seinem kurzen melancholischen Vortrag war ihm das zuzutrauen und in seinem Blick irrlichterte da nicht etwas? Er wirkte irgendwie rastlos, aber auch entschlossen und …

Jetzt hatte er sich hingesetzt! Auf den nächstbesten Kistenstapel, was immer da drin war, es schien ihn wenigstens auszuhalten, er nickte bedächtig und zustimmend bevor er antwortete: “Gern, Danke aber bitte koffeinfrei, mein Herz müssen Sie wissen.”

Na, das hörte sich nun doch nicht nach einem Selbstmörder an und als es aus ihren Pappbechern dampfte, aus koffeinfrei war ein Pfefferminztee geworden, begann Herr Hoffmann wieder zu erzählen.

“Was macht eine Wohnung zu einem Zuhause? Diese vier Wände waren meines. Vierzig Jahre lang und ich wünsche mir, dass nach fünf Nachmietern jemand kommt für den sie das auch sein kann. Sie hat viel zu erzählen, sie hat mich immer beschützt und sie verdient es …”

Einige Monate, eine Katze, viele Gespräche, Bücher und etliche gemeinsame Pfefferminztees mit Ernst Hoffmann später, die Tapete trug jetzt stolz eine Deckschicht in ihrer Lieblingsfarbe, fühlte es sich so an, als könne sie diejenige sein, die aus dieser Wohnung ein Zuhause machte.

Was machte eine Wohnung zu einem Zuhause? War das nicht jemand der in der Nähe war, wenn man den Schlüssel im Schloss drehte? Und noch etwas war bei ihr eingezogen. Innere Ruhe und so hatten ihre Geschichten begonnen sich sanft auf das alte Parkett zu legen.

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