Über die See (Mariette Navarro)

Coram iudice et in alto mare in manu dei. Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Das wussten schon die Juristen der Römer und stellten damit die Hilflosigkeit angesichts meerbedingter Naturgewalt und von Menschen gemachter Urteile auf eine Stufe. Nicht selten führten und führen Fehlbeurteilungen von kritischen Situationen auf See noch immer in den sicheren Tod und die Dramatik von Begegnungen zwischen Mensch und Meerestier wusste und weiß auch die Literatur gekonnt in Szene zu setzen. Zu allererst denke ich an Melvilles Moby Dick und dann an Hemingway mit Der alte Mann und das Meer, wenn es um innere Kämpfe geht, die im Äußeren auf und mit dem Ozean und seinen Geschöpfen ausgetragen werden.

Wohin werde ich geraten, wenn ich in dieser Geschichte ein modernes Containerschiff besteige, dessen Kapitänin es einer spontanen Eingebung folgend auf offener See stoppen lässt, damit ihre Mannschaft, so der übereinstimmende Wunsch, schwimmen gehen kann?

“Sie hoffen auf Stille und schalten die Motoren ab. Dabei haben sie nicht an das Spiel der Wellen, ihr Schlagen gegen den Bug und die Wucht des tosenden Windes gedacht, die ihr Recht einfordern, sobald die Maschinen schweigen. Alles Knarzen und Rauschen entstammt nunmehr mechanischen Kräften, Windböen, Wassermassen, dem vom Wellengang hin- und weggeworfenen Stahlkoloss und den Atemzügen der Männer als Antwort auf dieses mächtige Fauchen.”

Textzitat von Mariette Navarro aus Über die See

Über die See von Mariette Navarro

Fünfundvierzig entscheidende Minuten, die Kommandantin allein an Bord, Geheimnisse und Schweröldämpfe, Metallgeschmack, der Geruch von Schmieröl in der Luft und ganz dünnes Eis.

Das muss ein Fehler sein. Ein Irrtum vielleicht. Sie weiß es und doch lügt sie. 20 Männer waren zum Schwimmen auf See ausgestiegen und 21 sind zurückgekehrt. Die Zahl steht wie eine Anklage im Raum und die Frage ihres ersten Offiziers die er leise an sie richtet hängt in der Luft zwischen ihnen. Wenigstens haben sie bei dieser Narretei niemanden verloren. Was war nur in sie gefahren?

Mariette Navarro, geb. 1980, französische Schriftstellerin, Dramaturgin und Verlegerin eines eigenen kleinen Verlags für poetische Prosatexte, legt mit »Über die See« ihren ersten Roman vor. Für sie ins Deutsche übersetzt hat Sophie Beese und wie!!! Man meint die Melodie der französischen Sprache auch in ihrer Übertragung zu hören. Sinnlich und wohlklingend sind Navarros Sätze und ich wundere mich, wie viel an Inhalt, an Gedanken, Widerhall und Sehnen, auf so wenigen Seiten Platz finden kann. Märchenhaft anmutig erzählt Mariette Navarro von Zweifeln, Mut und dem Mut der Verzweiflung. Wie sie Lärm zu Musik erklärt, aus Furcht Wagemut macht und ein sicher geglaubtes Gleichgewicht in einer geschlossenen Gemeinschaft stört finde ich magisch!

Sie offenbart uns Wahrnehmungen und Deutungen, inneres Ringen und Hoffen. Den Druck und die Last von Verantwortung ebenso wie Lebensfreude, Kameradschaft und Loyalität. Diese Gegensätzlichkeiten sind es dann auch, die mir sehr gefallen, neben der sprachlichen Brillianz, die die Autorin mit der Muttermilch eingesogen zu haben scheint.

Mit großer Wortgewandtheit nimmt mich das Team Navarro/Beese bereits zu Beginn in Empfang und ich bin ausgesprochen beeindruckt davon, wie es offenbar gelingen kann in zwei ganz und gar unterschiedlichen Sprachen gleichermaßen Leserschaften zu berühren. Natur, Maschinen und Schiffskörper werden von Kulissen zu Protagonisten, der Mensch mit all seinen Zweifeln, seiner Abenteuerlust und innerer Gefängnisse zum Spielball. Licht, Luft und Wasser als Elemente sind in dem ihren. Wohl dem, der sich besinnt auf das was zählt, wenn es darauf ankommt. Und das tut es. Auf jeden Einzelnen. Immer.

“Sie weiß, dass man auf dem Rücken der Ozeane nicht immer willkommen ist, dass man sich nicht ungestraft an ihrer Mähne festhalten kann.”

Textzitat von Mariette Navarro aus Über die See

Solche und ähnliche Sätze landen mit Schwung vor meinen Augen, teils empfinde ich sie wie eine Provokation und verstehe nichts. Dann z.B. wenn Navarro behauptet es gäbe drei Arten von Menschen, die Lebenden, die Toten und die Seefahrer. Als sie fortfährt mit Erzählen, philosophisch und nachdenklich, verstehe ich, bin ganz bei ihr, bewundere die Nähe die sie zu ihren Figuren aufgebaut hat. Fühle sie so sehr. Ihr Innerstes stülpt sie für uns nach Außen, dreht sie auf links. Ihr Sehnen, ihr Getriebensein, ihre Ängste.

Nachdem spontanen Schwimmausflug, wird das Schiff plötzlich unter voller Maschinenlast immer langsamer und es zieht ein Nebel auf, dicht und mehr als ungewöhnlich für diese Breiten. Sorgen erfassen die Mannschaft, derweil das schlagende Herz dieses eisernen Kolosses weiter durch die Seiten pocht. Auch ich spüre ihn, wenn ich das Buch in meinen Händen halte.

Dieses Schiff, es führt ein Eigenleben und es erzählt mir von Winden, die Fröhlichkeit, Übermut, aber auch Wahnsinn mit sich bringen. Von finsteren Nächten ohne Mond, ohne Sterne. Von einem schwarzen Heft, in dem alles steht was wahr ist und was wahr sein könnte. Von den vom Festland Verstoßenen. Von Orten an denen uns keine Mauern beschützen. Können. Von der Angst nie mehr heimzukehren. Von der Furcht das Leben und seine Lieben nicht mehr zu verstehen, nachdem man sie an Land zurückgelassen hat. Von Andenken, die in Manteltaschen versteckt mahnen, nicht zu vergessen, das da noch eine andere Welt existiert, jenseits von Stahl und Wellen. Es erzählt mir vom Ankommen, großer Erleichterung und davon endlich einmal keinen Plan zu haben …

Die Bilder die Mariette Navarro dabei in meinem Kopf entstehen lässt kann ich nicht recht in Worte fassen. Immer wieder entgleitet mir ein Gedanke oder er scheint mir doch nicht der passende zu sein. Was diese Lektüre mit mir macht will mein Verstand auch nicht analysieren, denn meine Leseseele schwingt. So wie sie es zuletzt bei Djaimilia Pereira de Alemeidas Geschichte um ihren Kapitän Celestino getan hat. Ihr erinnert Euch?! Sie heißt Im Auge der Pflanzen.

Auf das WIE erzählt wird, kommt es auch bei Navarro an und ich finde es SO bemerkenswert! Wie sie an ihrer unterschwelligen Grundspannung festhält, so wie der Wind zum Meer gehört, mal schwillt sie an, dann wieder ebbt sie ab und diese wunderbare Melancholie die stets alle begleitet, die diese Erzählbühne betreten, haben mich in vollen Zügen genießen lassen. Die meisten ihrer Satzkunstwerke habe ich mit Freude mehrfach gelesen, weshalb ich in diesen 157 Seiten eine kleine Ewigkeit verweilt und das Buch von vorne bis hinten mit Post Its gespickt habe. Die stilistische Eigenwilligkeit dieser Autorin und ihre mich sanft aufwühlende Prosa haben diese ungewöhnliche Geschichte zu einer meiner liebsten in diesem Lesejahr werden lassen.

Bedanken möchte ich mich bei ihr für diese Reise, die mir hunderte, tausende Kilometer unter meine Füße gelegt, die mich überrascht und mitgerissen hat, wie eine dieser Wellen, die aus dem Nichts auftauchen …

Lieben Dank auch an den Verlag Antje Kunstmann für diese wunderbare Entdeckung und für das Besprechungsexemplar.

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