Tyll (Daniel Kehlmann)

Lesehighlight voraus!

Samstag, 11.11.2017

Sie brachten die Kunde von schaurigen Taten, von öffentlichen Gerichtsverhandlungen, Hinrichtungen, Morden und Hexenjagden. Rumpelten auf von Pferden oder Eseln gezogenen Karren von Ort zu Ort. Vermischten die Wahrheit in gereimten Texten teils mit Übertreibung und der eigenen Weltsicht – die Moritatensänger. Begleitet durch Instrumente, verkauften sie ihre Texte auf Plätzen und Jahrmärkten zum eigenen Broterwerb. Nicht selten entstanden so auch die “Fake-News” des 17. – 19. Jahrhunderts, wurde so Meinung gemacht. Ein Publikum wollte schließlich erobert und begeistert werden, deshalb befanden sich in ihrem Gefolge auch nicht selten Artisten und Gaukler.

Till Eulenspiegel könnte da gut und gerne ein solcher
Begleiter gewesen sein. Ob es ihn aber wirklich gab, oder ob er eine rein fiktive Gestalt ist, darüber spekulieren die Gelehrten noch heute. Man kann bei Wikipedia nachlesen, dass er der Protagonist einer mittelniederdeutschen Schwanksammlung gewesen ist, im 14. Jahrhundert als umherziehender Schalk gelebt haben soll. Immer hatte er in seinem Publikum mindestens einen auf dem Kieker, gar bösartig war sein Humor, die Schadenfreude seine Waffe.

Was ein echter Herrscher war, der hielt sich damals einen Narren. Denn nur dieser durfte dem Bessergestellten ungestraft die Meinung sagen, ihm für sein Handeln ein Spiegel sein, die sprichwörtliche Narrenfreiheit geniessen. Nicht selten wurde er deshalb zum wertvollen Berater. Auch diese Tatsache könnte ein Beleg für die Existenz Till Eulenspiegels sein.

Kehlmann verortet ihn neu im dreißigjährigen Krieg, nutzt ihn als Leitfigur, lässt ihn als Tyll Ulenspiegel in der Zeit von 1618 bis 1648 agieren. Dieser Religionskrieg, der am 23. Mai 1618 mit dem Prager Fenstersturz begann und in Deutschland am 24. Oktober 1648 mit dem westfälischen Frieden endete, brachte Hungersnöte und Seuchen, verwüstete und entvölkerte ganze Landstriche, die in Teilen mehr als ein Jahrhundert brauchten um sich wieder zu erholen. In einigen Bereichen Süddeutschlands überlebte gar nur ein Drittel der Bevölkerung nach den wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen (Quelle: Wikipedia).

Tyll – hier erzählt Daniel Kehlmann …

von Geistern:

Textzitat, S. 29: Uns andere aber hört man dort, wo wir einst lebten, manchmal in den Bäumen. Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen, man hört uns, wenn man den Kopf gegen das Astloch der alten Ulme legt, und zuweilen kommt es Kindern vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser des Baches sehen.

… von Müllern und Eseln:

Vielleicht war es ein Wolf? Die zögerliche Frage des Knechtes blieb unbeantwortet. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Alle Mehlsäcke waren aufgerissen, alles war weiß vor Mehl auf dieser Wald-Lichtung. Der Esel lag in seinem eigenen Blut, der Kadaver von Fliegen bedeckt. Nein, kein Wolf, mit einem glatten Schnitt war ihm der Kopf abgetrennt worden. Wo war sein Sohn? Was war hier passiert? Der Müller Claus geriet in Panik, rief laut nach ihm. Da – in den Pausen zwischen den Rufen, ein beinahe irres Kichern. Über ihnen im Baum, nackt und vollkommen weiß, wie paniert – balancierte sein Sohn auf einem Seil! Auf seinem Kopf, sie wandten den Blick ab, trug er den Skalp des Esels …

vom Scharfrichter sein:

Verachtet, gefürchtet, ausgegrenzt. Offen ansprechen, gar berühren durfte man sie nicht. Sie selbst lebten vom Tod, von der Folter und in der ständigen Angst von einem Delinquenten verflucht zu werden. Ihren Kindern und Kindeskindern stand kein anderer Beruf mehr offen, einmal Henker, immer Henker …

von Königen, Bittstellern und Schlachtfeldern:

Textzitat, S. 280: Das Erdreich war aufgewühlt, die Pferde sanken ein, sie stapften wie durch tiefen Morast. Unrat häufte sich dunkelbraun am Wegesrand, der König versuchte sich zu sagen, dass es wohl nicht das sei, was er vermutete, aber er wusste, es war genau das: der Kot von hunderttausend Menschen. Nicht nur danach stank es. Es stank auch nach Wunden und Geschwüren, nach Schweiß und nach allen Krankheiten, welche die Menschheit kannte.

… von Sterbenden und wahrer Freundschaft:

Textzitat, S. 392: Erst als der Tod nach ihr griff und mit ihm die Verwirrung der letzten Tage, war ihr plötzlich, als ob sie ihn sehen könnte. Dünn und lächelnd stand er am Fenster, dünn und lächelnd kam er in ihr Zimmer, und lächelnd setzte sie sich auf und sagte: “Das hat ja gedauert!”

… von Statthaltern und Narren:

Einen Stadtkommandanten zu verägern war keine gute Idee und er hatte den Bogen eindeutig überspannt. Die Strafe folgte auf dem Fuss und war drastisch. Man suchte gerade Männer zur Verteidigung der Feste, die Einheit konnte er sich noch aussuchen. Sein Fehler, das er dachte bei den Mineuren unter der Erde sei er sicher, geschossen, gehauen und gestochen wurde ja schließlich oben, während er in aller Ruhe einen Schacht in die Freiheit graben würde …

Textzitat, S. 404. Ja, das ist dumm gewesen. Mineure sterben fast immer, aber das haben sie ihm erst unter der Erde erzählt. Von fünf Mineuren sterben vier. Von zehn sterben acht. Von zwanzig sterben sechzehn, von fünfzig siebenundvierzig, von hundert sterben alle …

Daniel Kehlmann, geb. 1975 in Wien, als Sohn eines Regisseurs und einer Schauspielerin, hat bereits unzählige Auszeichnungen erhalten. Er studierte Philosophie und Germanistik. Seine Geschichte “Die Vermessung der Welt” wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit, in bisher vierzig Sprachen übersetzt und allein in Deutschland 2,3 Millionen mal verkauft. Auf der FBM 2017 zu seinem neuesten Roman “Tyll” interviewt, eröffnete der Moderator mit dem Satz, “Uups, jetzt haben Sie es doch getan”. Sie wollten doch keinen historischen Roman mehr schreiben?”. Zum Glück, hat er es doch getan und ich, die sich bisher erfolgreich um das Lesen “Der Vermessung der Welt” gedrückt hat, wird sich umentscheiden …

“Figuren werden durch ihr handeln nahbar, nicht dadurch das man sie beschreibt”, sagte unlängst Mariana Leky in einem Interview. Genau das schafft Kehlman. Unaufgeregt, beinahe sachlich, aber niemals ohne Empathie entwickelt er seine Figuren. Landschaften und Ortschaften beschreibt er nicht seitenlang und doch, habe ich mich gefühlt als hocke ich auf dem Wagen des Moritatensängers und rumpele mit ihm über Land. Nicht alles schreibt er zu Ende und doch bleibt nichts unausgesprochen, denn am Satzende arbeitet sofort der eigene Kopf weiter. So war ich bei Gericht, Folter oder Hinrichtung als Leserin niemals nur Zaungast. Feldlager voll mit Exkrementen, übersäht mit Leichen und Leichenteilen, Hunger nagend, quälend, die Pest im Gepäck zieht er mit uns durch ein verwüstetes, verwaisestes Land.

Der “Hexenprozeß” um den Müller Claus, exemplarisch steht er für mich, für den damaligen Umgang der Kirche mit Heilern, er hat mich richtig angepackt. Folterkundig sorgte man für die “richtigen” Antworten, die eine Verurteilung dann möglich machten. Familienangehörige gestanden in Todesfurcht um einer eigenen Festsetzung zu entgehen. Ausweglos, alternativlos opferten sie ihre Lieben.

Kehlmann zeichnet das Bild dieser Zeit im Wandel packend und macht zugleich nachdenklich. Mich, die ich heute aus der sicheren Entfernung des Wohlstandes auf ein solches Tun und Handeln blicke, mich eingerichtet habe in meiner Komfortzone, macht er betroffen. Religionsfreiheit geniessen wir heute ohne darüber nachzudenken mit welchen Wunden diese einst erkämpft wurde und was sie im täglichen Leben tatsächlich bedeutet.

Ein guter historischer Roman ist wie eine Reise in einer Zeitmaschine. Dieser hier entführt und begleitet kundig, nie reisserisch, durch ein Zeitalter in dem man freiwillig nie ausgestiegen wäre. Eine Zeit voller Standesdünkel, Elend, Krieg und Zerstörung. Mit großem erzählerischen Geschick läßt uns Kehlmann durch Ereignis-Fragmente teilhaben am Leben Tyll Ulenspiegels, wir werden mit ihm erwachsen, beginnen seine Prägung und seine Motivation zu verstehen. Eine Geschichte, die mich durch ihren Erzählstrom mitgenommen hat wie ein langer ruhiger Fluss. Sie kommt ohne Katarakte aus. Das Wasser ist still, dunkel und tief – da gibt es so einiges auszuloten …

“Erzählen, das bedeutet einen Bogen spannen wo zunächst keiner ist, den Entwicklungen Struktur und Folgerichtigkeit gerade dort verleihen, wo die Wirklichkeit nichts davon bietet. (Zitat Daniel Kehlmann, Quelle Wikipedia).

Mein Dank geht an den Verlag für dieses Rezensions-Exemplar.

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