Der erste Wolkenkratzer der Stadt New York der die Schallmauer der 50 Stockwerke sprengte, öffnete 1913 seine Türen und 57 Etagen mit Blick auf den Broadway. Mit seinen gotischen Elementen, den Spitzbögen und Wasserspeiern ist er heute ein Stück Architekturgeschichte. Sein Inneres erhellten 80.000 Glühbirnen, die am Eröffnungstag Präsident Woodrow Wilson persönlich alle auf einen Schlag anschaltete, dies per Fernleitung aus dem Weißen Haus. Sein Bauherr zahlte damals bar: Frank Woolworth, der “König der Fünf-Cent-Läden” berappte 13,5 Millionen Dollar und bekam dafür das damals höchste Gebäude der Welt.
Die Schere zwischen Arm und Reich könnte nicht größer sein in dieser Stadt. Die Kluft zwischen Schwarz und Weiß auch nicht. In diesem Roman tauchen wir tief ein in diese Kluft, erleben was es heißt jeden Cent dreimal umzudrehen, lernen das Misstrauen derer zu ertragen die eine andere Hautfarbe haben, erfahren ihre Missachtung. Tag täglich, bis zu unserem Lebensende. Rassismus ist keine Eintagsfliege. Leider. Mit dieser Geschichte, die knapp 75 Jahre alt ist und die, so fürchte ich bis heute an Brisanz viel zu wenig verloren hat, lernen wir Lutie kennen, die in ihrer kleinen schäbigen Wohnung der Stromrechnung wegen nur eine Glühlampe brennen lassen konnte und die mit dem Gedanken an Geld aufstand und wieder mit ihm zu Bett ging, weil sie keines hatte …
“Geld macht aus Selbstmord einen Unfall mit Schußwaffe … Geld konnte einen weißen Cop beinahe zum Lächeln bringen, wenn er einen schwarzen Temposünder anhielt … Geld war das einzige, was sie und Bubb vor dieser Straße retten konnte. Während Geldmangel sie für immer dort festhalten würde.”
Textzitat Ann Petry The Street
The Street – Die Straße – von Ann Petry
Als der letzte Ton aus der Juke-Box verklungen war erhob sich eine Stimme. Sie füllte die armselige Kneipe, in der sich allabendlich die verlorenen Hoffnungen stapelten wie schmutziges Geschirr. Eine Stimme, in der eine Wehmut mitschwang, die das Gläserklirren ebenso verstummen ließ wie die Gespräche. Lutie hatte das letzte Lied schon mitgesummt, jetzt sang sie laut und die Traurigkeit, die sie in ihre Stimme legte ließ die Anwesenden wie in einen Spiegel schauen. So waren sie geboren, so verlief ihr aller Leben, eine immer gleiche Variation desselben.
Als Luties Gesang geendet hatte legte sich ihr eine Hand auf die Schulter. Eine manikürte, und der Mann zu dem sie gehörte trug einen feinen Anzug mit Mantel und verdiente ganz offensichtlich sein Geld nicht mit seiner Hände Arbeit …
Ann Petry, geboren am 12. Oktober 1908 in Conneticut, us-amerikanische Schriftstellerin, entstammt einer erfolgreichen Apotheker-Familie. Sie wuchs privilegiert auf, studierte selbst auch Pharmazie, heiratete und zog 1938 nach New York. Dort wurde sie als Afroamerikanerin erstmals mit Rassen-und Geschlechterdiskriminierung konfrontiert und begann sich schriftstellerisch damit auseinanderzusetzen. Ihr Roman The Street erschien erstmals 1946.
“Die Treppe führte steil nach oben. Hohe, dunkle, schmale Stufen. Sie starrte gebannt hin. Wer diese Treppe hinaufstieg würde oben, ganz oben, wohl eine abgefeimte, sehr vertrackte und ausgefuchste Hölle betreten.”
Textzitat Ann Petry The Street
Mit ihr, ihrer Heldin Lutie Johnson und deren achtjährigem Sohn Bubb betrete ich an einem eisigen Novembertag 1944 ein Mietshaus in Harlem, in der 116. Straße. Im Souterrain wohnt ein Hausmeister mit Hund, der über Wohl und Wehe bestimmt, der verlängerte Arm des Vermieters ist, übergriffig und den niemand leiden mag. An einem der Fenster thront tagein tagaus eine gewaltige Frau, sie sieht alles, kennt alle, hat ein paar Mädchen am Laufen und immer ein paar Gentlemen in Reserve. All das hier im Haus.
Müllberge türmen sich am Bordstein auf, in ihnen wühlen verwahrloste Hunde. Kinder säumen mit ihren Schuhputzkästen die Straße. Schon früh lehrt man sie auf welcher Stufe sie stehen und welche Art Arbeit man für sie vorsieht. Immer schön den Kopf unten halten.
Bonjour tristesse! Die Hoffnungslosen, die die sonst keine Bleibe fanden, betrachtete man in dieser Straße als solvente Mieter und sammelte sie in Mietshäusern wie diesem hier. Hinter hohen Fassaden, in die schmale Fenster geschlitzt waren, kauerten sich dunkle, beinahe unbewohnbare Zimmer.
Gegen ihr Gefühl entscheidet sich Lutie für eine Wohnung in diesem Haus und das Unheil scheint sich tatsächlich bereits vor ihrem Einzug hier eingenistet zu haben und hier wohnen auch sie, die Albträume von einem Leben in Ketten. Von einem Leben wie im Käfig.
Ich lerne den Unterschied zwischen Haustür und Hintertür und das sagt eigentlich schon alles. Höre von einer Besserungsanstalt, sofort denke ich an Colson Whiteheads Nickel Boys und mir wird ganz elend.
<Schneller Boy. Mach schon Boy. Yes Sir. No Sir.> Drinks die mit Herablassung bestellt werden schüren rotglühenden Hass bei denen, die sie servieren. Prügelnde Männer, solche die auch die Hand gegen ihre Frauen erheben, die ihre Macht und ihre körperliche Überlegenheit auskosten wollen nutzen Lutie aus. Das mitzuerleben, ihren verzweifelnden Kampf, nimmt beinahe thrillerhafte Züge an. Die sich leise anbahnende Katastrophe meine ich beinahe körperlich zu spüren.
Die Sprache von Ann Petry ist unglaublich szenisch und bildhaft, mit ihr gestaltet sie eine bedrückende Atmosphäre, die in der Neuübersetzung von Uda Strätling modern und sehr eindringlich auf mich einwirkt und für jegliche Verfilmung eine Steilvorlage wäre.
Sie schreibt ungemein vereinnahmend. Diese Geschichte hat mich mit Haut und Haaren verschlungen. Ich zog mit Lutie und Bubb an der Hand durch Harlems Straßen während aus jeder Silbe die Hoffnungslosigkeit sickert. Ein Klassiker in neuem Gewand, den man auch angesichts der derzeitigen Unruhen in Amerika und der Diskussion um den Tod von George Floyd noch einmal hochhalten MUSS.
Das Leben derer, die sich Angestellte leisten können, kontrastiert mit dem derer, die für sie arbeiten. Die von ihrem kargen Lohn nicht einmal ihr Obdach finanzieren können. Unsichtbare Maurern zwischen Schwarz und Weiß, davon schreibt Petry, ihre Heldin rennt dagegen an. Bis sie blutend stürzt. Dort wo Vorurteile blühen und Missgunst regiert, hier in der 116. Straße in Harlem, New York.
Lutie träumt einen Traum. Einen von finanzieller Unabhängigkeit, einen von Freiheit. Träumt vom Singen leben zu können. Endlich genug zu verdienen. Genug um sich eine anständige Wohnung in einer besseren Gegend leisten zu können. Genug um den gierigen Blicken dieses Hausmeisters zu entfliehen. Genug um für Bubb Spielkameraden und eine Betreuung finden zu können, die ihn nicht in eine der Straßengangs abdriften lässt. Genug um endlich zu leben. Genug.
“… und während du auf der Arbeit warst um die Miete für dieses Drecksloch zusammenzubringen, na da sorgte die Straße für deinen Jungen. Mehr noch, die Straße wurde ihm Mutter und Vater, sie zog ihn für dich auf und sie war ein schlechter Vater und eine böse Mutter.”
Textzitat Ann Petry The Street
Eine bittere Geschichte. Eine die unversöhnlich mit dem Thema Rassismus umgeht. Finster und in der Schilderung der herrschenden Abhängigkeiten extrem aufwühlend. Schwarz-Weiß-Denke und eine Boshaftigkeit die sich nie ausruht wohnt hier zwischen den Sätzen.
Wer also Geschichten nicht mag, die kein Happy-End haben, der muss um Ann Petry einen Bogen machen. Wer so wie ich, Geschichten mag die mahnend aufrütteln können, ohne dabei moralisierend den Finger zu heben, der ist hier richtig. Goldrichtig. Hier wo die Wände näher rücken, wo die Dunkelheit flüstert. Wo man in drangvoller Enge kaum atmen kann, eingeschlossen ist mit seiner hilflosen Wut.
Es ist als bestimmten Spiegelgestalten Luties Schicksal. Dabei ist Petrys Figurenzeichnung rasiermesserscharf, überwiegend erleben wir die Geschichte aus der Perspektive von Lutie, Petry gewährt uns aber auch Einblicke, indem sie mit der Stimme anderer Figuren erzählt, diese sind vielfarbig und haben mich tief bewegt. Die Kombination dieser Sichten und ihr gemeinsamer Nenner, die Ausweglosigkeit, die ihnen eine Hautfarbe beschert, die von Geburt an ihren Stand bestimmt, mein Kopf hörte nicht mehr auf mit Schütteln.
Mich hier auf eine Seite zu stellen war mir ganz und gar unmöglich. Auch dann und besonders als das Unvermeidliche glasklar vor mir lag: Dieser Schluß! Er weht mich an wie ein kalter Hauch. Ich kann und will nicht glauben was ich da höre! Mit Mühe unterdrücke ich einen Aufschrei. Aber nein, da kommt nichts mehr. Das letzte Wort, es ist ausgesprochen, ihr letztes Wort hängt noch in der Luft:
Bettina Hoppe, geboren am 21. Mai 1974 in Nairobi, deutsche Schauspielerin und festes Mitglied des Berliner Ensembles, liest 691 Minuten lang, in der ungekürzten Hörbuch-Fassung, mit großer Empathie für den Text und die Figuren. Ich meinte bei ihr durchgängig eine gewisse Grundempörung zu spüren, die sich auch meiner bemächtigt hat, da waren noch gar nicht viele Textzeilen abgelauscht.
Wut kann sie, ich fühle mich wie geohrfeigt. Enttäuschung kann sie, Verzweiflung auch. Ich könnte mir ihr weinen. Wispern, bedrohlich hauchen. Ich fahre zusammen. Sie macht mich atemlos mit ihrem stimmlichen Aufbegehren und gegen Ende legt sie so zu, das es sich wahrlich anfühlt wie das Finale eines Hörfeuerwerks. Ich weiche zurück, als hätte mich eine Orkanboe erwischt. Kann diese Frau aufdrehen! Wie sie sich diesen Plot eingeteilt hat, wie sie sich diese Reserve aufgespart hat. Genial!
Mein Dank geht an speak low! für dieses Rezensionsexemplar und Hörerlebnis!
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