Dunkel (Ragnar Jónasson)

Ruhestand. Für die einen bedeutet er Stillstand. Fühlt sich an, wie eine Vollbremsung aus rasender Fahrt. Andere sehnen ihn herbei, er ist ihr “Unruhestand”. Endlich ist mehr Zeit, für die Interessen, die bislang zu kurz gekommen sind. Nicht jedem ist vergönnt, diesen Lebensabschnitt mit einem Partner zu beginnen und zu teilen. Im fortgeschrittenen Alter noch einmal eine Bindung eingehen, das klingt nicht nach einer einfachen Sache. So viele Macken und Gewohnheiten hat man sich inzwischen angewöhnt. Hulda, die Heldin dieser brandneuen isländischen Krimi-Reihe weiß davon ein Liedchen zu pfeifen und ist mir dabei “mordsympathisch”:

“Der Vorteil von Dunkelheit ist, das es keine Schatten gibt.”

Textzitat Ragnar Jónasson Dunkel

Dunkel von Ragnar Jónasson

Hulda Hermansdottir steuerte zielstrebig auf die fünfundsechzig zu, stand damit kurz vor ihrer Pensionierung. Sie ist verwitwet, liebt die Natur ihrer isländischen Heimat, hier erdet sie sich und bei ihrer letzten Vorsorge-Untersuchung hatte ihr der viel zu junge Arzt ein “erstaunlich fit für ihr Alter” attestiert. Als Kommissarin hatte sie während ihres Arbeitslebens zahlreiche knifflige Fälle gelöst, war gut in ihrem Job gewesen und schon auch ein bisschen stolz darauf. Die Frau, die ihr aber in den letzten Wochen und auch heute aus ihrem Spiegel ins Gesicht sah, schien die Zuversicht verloren zu haben.  Sie erkannte Angst in ihren Augen. Angst vor der Einsamkeit. Angst vor dem Alter. Angst davor ohne Aufgabe zu sein. Bald schon. 

Eine E-Mail von ihrem Chef bedeutete zumeist nichts erfreuliches und das Gespräch, das sich jetzt gerade daran anschloss, über ihre “Situation”, wie er es nannte, war auch alles anderes als das. Alles andere als erfreulich. Es sei ihm gelungen einen jungen Überflieger zu engagieren, der schon in zwei Wochen ihr Büro und ihren Platz einnehmen würde. Sie könne ihren  Ruhestand also getrost vorziehen, bei vollen Bezügen. Selbstverständlich! Alle ihre Fälle waren schon verteilt auf Kollegen. Wie bitte?!

Dieser Tiefschlag ins Kontor machte sie sprachlos. Sie stand ohne Familie da. Das müsste ihr Chef eigentlich wissen, aber es scherte ihn nicht. Er war ganz und gar aufgegangen in seiner Mission “Abstellgleis”. Um sich die Zeit noch zu vertreiben, könne sie sich ja einen abgelegten, einen ungelösten Altfall vornehmen, meinte er gönnerhaft. Als der erste Schock sich gelegt hatte, machte Hulda genau das. Es gab da einen Fall, er war ihr sofort in den Sinn gekommen. Sie würde zur Anwältin dieser Toten werden. Das sie damit die sprichwörtliche Büchse der Pandora öffnen würde, das ahnten weder sie noch ihr Chef an diesem Morgen …

Hier wo die Erde brodelt, wo sich zwei Kontinentalplatten übereinander schieben, wo der Boden so gefährlich ist, das man ihn nur aus sicherer Entfernung anschauen kann, dampfend und glühend heiß. Ich schließe die Augen und sehe mich im Juli vor drei Jahren im Schatten der Ockerberge, am Rand eines Solfatarenfeldes stehen, mit Schwefelgeruch in der Nase. Das pulsierende Reykjavik, mit seinem Opernhaus am Fjord, die Gischt des zuletzt besuchten Wasserfalls noch auf der Haut … Island! Mensch, krieg ich bei diesen Zeilen ein Fernweh nach diesem großartigen Eiland!

Mitternachtssonne oder frühe Dunkelheit schon im August, ein Haus am Meer mit Garten wo man tief durchatmen kann. Ein Ehemann der plötzlich verstirbt und einen Schuldenberg hinterlässt. Das Haus verloren, die  Hypothek riesig nach dem Börsencrash, das neue Budget – winzig.

Gespräche bei Rotwein. Mitternächtliche Anrufe. Ein Gedankenlabyrinth das weit in die Vergangenheit hineinreicht. Eine Bergwanderung bei Eis und Schnee, mit Pickel, Steigeisen und Rucksack, und mit vor Angst zugeschnürtem Herzen. Den Halt verlieren und nicht nur den. 

Eine Asylbewerberunterkunft, eine Abschiebung. Schwarze Lavafelder, so karg und doch so wunderschön. Lange vor der Besiedlung Islands entstanden. Schneeflächen auf die man als erster den Fuß setzt.

Querköpfig, scharfsinnig, durch und durch konsequent ist sie diese Hulda. Kämpft um Anerkennung und Wertschätzung als Frau im Beruf und dafür, das Jahre im Beruf etwas zählen, man nicht vorzeitig zum Alteisen geworfen wird. 

Mitgefühl und gute Absichten können aber durchaus auch ein Genickbruch sein. Hulda balanciert auf des Messers Schneide. Oder um es isländisch zu sagen auf ganz dünnem Eis …

Ragnar Jónasson, geboren 1976 ist von Hause aus Rechtsanwalt und arbeitet in Reykjavik, wo er mit seiner Frau und zwei Töchtern auch lebt. Er ist Mitbegründer des ersten isländischen Krimifestivals und hat bislang fünf Bücher veröffentlicht, die der Dark Iceland-Reihe angehören.

Ich mag Krimis die etwas besonderes haben, die dieses Genre beleben. Auch die nordischen, die etwas düsteren. Jónasson baut dafür zu seiner 65jährigen Hulda eine Parallelgeschichte auf. Bald dämmert mir, wer  dieses abgenabelte Kind sein muss von dem er da erzählt und ich erlebe begeistert die Annäherung dieser beiden Zeitebenen im Wechsel.

In oder mittels Rückblenden zu erzählen ist ja nicht neues, hier aber kommen sie dicht an dicht, sie halten mich in Atem und ich sortiere im Geiste die Teile. Keine Sorge, der Überblick geht nicht verloren, vielmehr wuchs meine Neugierde, die Neugier darauf wohin mich diese Geschichte wohl führen würde. 

Als ich erfahre, warum der Titel dieses ersten Teils “Dunkel” heißt, denn er ist nicht zufällig gewählt, als ich um seine Bedeutung erfahre, da hatte ich einen Kloß im Hals. Als dann gegen Ende noch, durch einen einzigen Satz alle von mir gedanklich vorsortierten Teilchen an ihren Platz fallen … Mensch, Hulda! Die Dunkelheit kennt vielleicht keine Schatten, aber dort wo Du bist hat es reichlich Schatten und in ihnen wohnt offenbar auch mehr als ein Geheimnis. 

Das hab ich nun davon! Eigentlich fange ich ja keine Reihen mehr an. Eigentlich. Es gibt halt einfach zu viele Geschichten für mich, die erobert werden wollen. Nur mal eben reinschnuppern in diese hier wollte ich. Weil sie in Island spielt und weil ich so entsetzliches Fernweh hatte nach MEINEM Island und dann treffe ich sie: Hulda, und sie trifft mich. Ganz unvermittelt. Ich mochte sie sofort und jetzt bin ich heilfroh, das die Fortsetzung, also Teil zwei schon bald, am 13.07.20 erscheinen wird. Teil drei dann noch im September diesen Jahres.

Also, will sagen: Für alle “Nicht-Krimi-Fans”, die gegen Spannung nichts einzuwenden haben, diese Geschichte hier ist auch etwas für Euch. Mich hat sie echt verblüfft und auf das angenehmste überrumpelt, denn Showdown kann Ragnar Jónasson und Cliffhanger auch. Die letzten zwanzig Minuten im Hörbuch konnte ich mich gerade eben so vom Nägel knabbern abhalten …

Das seine Sätze weich in meinen Ohren gelandet sind, das trotz der Ecken und Kanten die seine Hauptfigur ihr eigen nennt, ist ihr Verdienst: 

Katja Bürkle, geboren 1978 in Stuttgart, Schauspielerin am Residenztheater München. Sie liest nicht Hulda, sie ist Hulda für mich. Authentisch, querköpfig und mit einer ein paar Oktaven tiefer gelegten Stimme entführt sie mich in das Land von Feuer und Eis. Sie wirkt wie ein Brandbeschleuniger für Jónassons Story, ich brenne sofort lichterloh für sie. Sie liest sanft und zurückgenommen und trotzdem hat man keinen Zweifel, nicht den Hauch eines Zweifels, an der wilden Entschlossenheit der Figur.

Sie macht sooo schöne Kunstpausen, in denen Huldas Gedanken und Sätze nochmal nachklingen können. Davon hat es reichlich, Gedankengänge denen wir folgen dürfen meine ich, und auch deshalb heißt es für mich, sobald Teil zwei bereit liegt, auf jeden Fall bin ich dabei, wenn Katja Bürkle am Start ist, dann auch wieder im Hörbuch! Denn Potz-Blitz, diesen Schluss kann man nun wirklich nicht auf sich beruhen lassen!

Mein Dank geht an Der HörVerlag für dieses Rezensionsexemplar.

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    28. Juni 2020

    Schön das es Dir auch gefällt. Freuen wir uns also auf Teil zwei! LG von Petra

  2. Dorothee
    28. Juni 2020

    Ich habe jetzt etwa die Hälfte dieses Krimis gelesen und finde ihn sehr gut! Er hat etwas Besonderes!
    Viele Grüße aus Kiel

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