Zwänge. Anpassen im Alltag. Dann hat man es leichter. Wer exotisch ist und fremd hat es schwer. Wer gar für sonderbar gehalten wird für den bleibt es schwierig. Die Masse bestimmt die Norm und unsere Gesellschaften sind streng mit denen, die abweichen. Streng, bisweilen ausgrenzend für die, die nicht den gängigen Vorstellungen entsprechen. Spüren. Das man nicht dazu gehört, hat dabei und in diesem Fall einmal nichts mit Rassismus zu tun. Den braucht es gar nicht, wenn es darum geht, das es einen geraden Rücken und viel Kraft braucht, will man sich behaupten, so wie man ist. Will man es schaffen SEIN Leben zu leben …
Das Seidenraupenzimmer von Sayaka Murata
Dem Himmel nah kommen. Das konnte man hier, auf den Gebirgsstraßen in der Nähe von Nakano. Man schraubte sich mit ihnen aufwärts, Kehre um Kehre. Das Haus der Großmutter lag fast im Weltraum. So fühlte es sich für die fünfjährige Natsuki an, die jeden Sommer mit den Eltern hierher kam.
Sie war, und das wusste niemand, ein “magical girl”. Einen origamigefalteten Zauberstab und eine verzauberte Puderdose hatte sie immer bei sich. Ihr Schutzgeist folgte ihr ebenfalls, er bewahrte sie auch vor der Reisekrankheit, die mit Übelkeit hier in den Serpentinen sonst über sie herfallen würde. Er war der Entsandte eines fernen Planeten, der mit ihr den Auftrag übernommen hatte den unseren zu schützen. Seine Seele verbarg er in einem Stofftier, in einer weißen Plüschmaus um genau zu sein und er sprach nur zu ihr …
Das Kind in mir, das sich zumeist in einer Ecke versteckt, jauchzt und klatscht mit dieser kleinen Heldin in die Hände. Ein Seelenverwandter, eine Sandkastenliebe tritt auf den Plan. Glücklich herumtoben, versteckspielen in einem alten Speicher, wilden Knöterich essen. Nach einem Raumschiff Ausschau halten das einen forttragen kann. Sommerferien, in denen die Großmutter Pfirsiche für einen aufschneidet, in denen man den kleinen Finger ganz fest mit dem des besten Freundes verhakt. Ein Sommer in dem man sich unzertrennlich fühlt. Verstanden und geliebt. Was märchenhaft beginnt wandelt sich alsbald und eine bedrückende Atmosphäre hält Einzug. Ausgerechnet ein Lehrer überschreitet alle Grenzen und ihre Mutter, der sie sich anvertraut, glaubt ihr kein Wort und nicht nur sie. Natsuki verliert sich, verliert den Kontakt zu sich, versucht sich umzubringen … Elf Jahre ist sie jetzt, in diesem Jahr stirbt ihr Großvater und nach der Beerdigung geschieht was nicht gesehen darf. Kinderträume sind zerbrechlich wie Glas und hier zertritt man sie mit dem Stiefelabsatz. Die Stimmung in der Geschichte kippt …
Sayaka Murata, geboren 1979 in der Präfektur Chiba, Japan. Die japanische Erfolgsautorin hat ein feines Gespür für Figuren mit Macken, für sie hat sie ein Herz. Ein großes. Ihre Ladenhüterin hatte schon das meine erobert, kein Wunder das ich auch ihre Natsuki kennen lernen wollte. In ihrem aktuellen Roman Das Seidenraupenzimmer setzt sie was die Figur anbelangt noch einen drauf. Durch dieses magische Mädchen erhält ihre Geschichte einen Zauber, der schwer zu greifen ist. Einen, der mich aushalten ließ, was ich eigentlich nicht aushalten wollte. Wer sein Herz öffnen kann um Natsuki einzulassen, dem wird es wund werden. Ohne Ausnahme.
Wenn Murata von Natsukis Astralzaubern schreibt, wenn sie es zulässt, das sich ihr Geist von ihrem Körper löst, damit sie das ertragen kann, was nicht zu ertragen ist, dann schnürt es mir die Brust zu. Dieses magische Mädchen wächst zu einer verletzten, versehrten jungen Frau heran und ich treffe sie nach bedrückenden Szenen, im Alter von 31 Jahren, verheiratet wieder.
Erlebe eine Hochzeit ohne Gäste. Ein Vertrag und jede Menge Regeln ersetzen danach Vertrauen und Zärtlichkeit. Eine seltsame Beziehung führen die beiden da. Eine Zweckgemeinschaft, man teilt sich eine Wohnung, aber nicht einmal die Mahlzeiten nimmt man gemeinsam ein. Wäscht die Wäsche getrennt, berührt sich nicht, auch nicht an den Händen. Ihr Mann scheint eine ebenso zerstörte Seele zu sein wie sie.
Rückkehr an einen Sehnsuchtsort. Ich brause mit dem Shikansen über Land, kurve anschließend über schmale, steile Bergstraßen ohne Leitplanken, auch mir wird schlecht. Ich kann das mit der Höhe nicht … Entfernungen schrumpfen, Berge auch, wenn man erwachsen wird. Der Fluss war doch auch so viel tiefer gewesen! Ein Wiedersehen nach dreiundzwanzig Jahren. Alles ist gleich. Alles ist anders.
Murata arbeitet mit reichlich Methaphern und dieser Roman von ihr hat für mich etwas ätherisches. Die Welt in der Natsuki lebt, nennt sie Die Fabrik. Gehorsam ist geboten und Natsuki hofft auf eine Gehirnwäsche, damit es nicht so wehtut den Normen und Regeln dieser Gesellschaft zu entsprechen. Wie auch schon in Die Ladenhüterin geht es Murata um Fremdheit, um das Anderssein und ich hoffe mit Natsuki, das sie ihren Platz in dieser für sie so schrägen Welt finden kann. Das man sie lässt. Das man sie SIE selbst sein lässt.
Kontrolle und Überwachung durch die Eltern. Sich beschädigt fühlen, der Möglichkeit beraubt eine zugewandte Beziehung zu führen. Murata findet Worte um das zu beschreiben, was mir die Sprache nimmt. Das Seidenraupenzimmer gibt es tatsächlich und sie setzt es als glückliche Kindheitserinnerung ein. Ein Raum im Haus des Großvaters auf dem Land, in den Bergen schwanger mit Erinnerungen an unbeschwerte Tage und an Cousin Yu.
Skurril und ganz schön “strange” war die letzte Hörstunde für mich. Irgendwo zwischen Mord und Kannibalismus habe ich mich verloren. Was andere großartig finden werden, war mir stellenweise zuviel. Vision oder Albdruck, alle Grenzen verschwimmen, diese Zuspitzung die Murata ihrem Themenkern nach Magie und sprachlicher Ausgewogenheit verpasst, hinterlässt bei mir eine große Betroffenheit. Was für ein Erwartungsdruck bereits auf Kindern in Japan herrschen muss. Wie wenig man bereit ist Abweichler zu dulden. Als Frau wird einem das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung abgesprochen? Als Opfer sexualisierter Gewalt wird einem nicht geglaubt. Es lebe die Fassade. Was für ein Bild Murata da entwirft! Das ist nichts für schwache Nerven. Meine sind noch immer in Aufruhr.
Eine brutale Geschichte ist das, die mit einer Sanftheit erzählt ist, das man eine Gänsehaut bekommt. Der Abschied von Natsukis Kindheit kommt abrupt und ist von unglaublicher Grausamkeit. Macht Euch auf einiges gefasst, diese Geschichte ist alles, aber nicht harmlos. Gleich wie auch immer sie gewandet sein mag, sie fühlt sich an wie ein Drahtseilakt. Sie balanciert zwischen Wahnsinn und Realität. Aber tun wir das nicht alle, jeden Tag, auf diesem Seil balancieren? Wir können nur hoffen, das uns niemand aus dem Gleichgewicht bringt, das wir nicht stürzen so wie Natsuki und wenn doch, das da ein ausreichend starkes Netz gespannt sein wird …
Vera Teltz, geboren 1971, deutsche Schauspielerin und Synchronsprecherin, geht förmlich auf in diesem Text. Sie vermag ihn auch mit Kinderaugen zu sehen. Erkennt das liebenswerte in ihm, betont es, stellt es heraus, rahmt es mit ihrer Stimme ein. Bestäubt den Text mit ihrer Stimmfarbe wie mit zartschimmerndem Puder. Der muss irgendwie aus Natsukis Dose entwichen sein …
“Pohanpipinpopopia” – keine Ahnung ob ich das jetzt richtig geschrieben habe, ich war ja im Hörbuch unterwegs. Ein Zungenbrecher, den Teltz im Stakkato liest. Ich lege die Ohren an wie sie das hinkriegt! Sie bringt dieses Wort heraus, einer Gewehrsalve gleich, schnell und klar, wie ein Mantra, wie einen Zauberspruch. Es ist eine der Schlüsselszenen, mich fröstelt. Wie oft sie das wohl geübt hat? Ich ziehe alle verfügbaren Hüte: Der Wahnsinn!
Mein Dank geht an den Aufbau Verlag für dieses Hörexemplar.
Liebe Heidi, Dein Erleben kann ich gut nachvollziehen. Auch mich hat der letzte Teil dieser Geschichte sehr herausgefordert, ich wollte mir auch lieber die Ohren zuhalten. Murata zeigt damit aber für mich ungeheuer eindrücklich was Missbrauch mit einer Seele macht, besonders wenn das Opfer kein Gehör findet … Dagegen ist Die Ladenhüterin deutlich leichter konsumierbar, da bin ich auch bei Dir. Die Autorin bleibt ihrem Thema in beiden Fällen treu, schaut auf die die am Rand stehen. Das mag ich gern … LG von Petra
Hallo Petra, die letzte Hörstunde hätte ich fast abgebrochen, wollte aber das Ende doch hören.
Man kann Dank dieser Geschichte verstehen, wie Außenseiter zu einander finden und was daraus entsteht. Vielleicht aber muss man selber Außenseiter sein oder gewesen sein, ich weiß es nicht. Kann über das Ende meine Meinung nicht sagen sonst verrate ich vielleicht zu viel falls andere Leserinnen und Leser meinen Kommentar lesen.
Die Ladenhüterin hat mir übrigens auch gut gefallen.
So, und jetzt schaue ich mich mal nach etwas anderem um hier in Deiner Apotheke!
LG
Heidi