Tell (Joachim B. Schmidt)

Kein geringerer als Friedrich Schiller schrieb ein Bühnenstück über ihn. Um 1307 datiert man das Wirken des Schweizer Nationalhelden und Freiheitskämpfers Wilhelm Tell. Sein Schuss mit der Armbrust auf den Apfel, den der Landvogt Gessler auf dem Kopf seines Sohnes platzieren ließ, ist legendär und wahrscheinlich das erste Bild das aufsteigt, denkt man an ihn. Wer war dieser Mann, dem der Vogt diese Aufgabe wegen angeblichem Ungehorsam gestellt hatte? Dem ein Sturm auf dem Vierwaldstättersee das Leben rettete und der dem Unterdrücker in einer hohlen Gasse auflauerte, ihn erschoss, wiederum mit seiner Armbrust, und damit einen Aufstand auslöste. Einen, der gewonnen wurde. Einen, der ihn zum Helden machte. Für Joachim B. Schmidt ist er Einer mit Ecken und Kanten, ein stiller, in sich gekehrter, der seinen Bruder am Berg verloren und das nie verwunden hat. Ein aufrechter, streitbarer Mann, dessen Wort zählt. Ein Jäger, ein Wilderer. Ehemann und Vater …

Tell  von Joachim B. Schmidt

Nur zwei Kochtöpfe hatte es gebraucht um den Bären, der sich dicht an den Stall herangewagt hatte in die Flucht zu schlagen. Im besten Wortsinn hatte die Großmutter mit ihnen Radau gemacht und Wilhelm, der mit der Armbrust im Anschlag an die Stalltür gelehnt gelauert hatte, den Abschluss verdorben. Getobt hatte er hernach. Und wie. 

Wilhelm hatte sie geheiratet. Die schwangere Frau seines verschollenen Bruder. Der Peter war am Berg geblieben und er war es ihm schuldig. Sie hatten ein Zuhause gebraucht. Die Frau, das Ungeborene und die Schwiegermutter. Im Dorf hatte man die Augen zugedrückt, so getan, als sei der Walter sein Sohn, auch wenn die Schwangerschaft arg kurz gewesen war. Glücklich waren sie gewesen. Sein Bruder und seine Frau. Das Glück aber schien mit ihm verschwunden zu sein. Ein Schatten lag seither auf dem Hof und auf Wilhelms Seele …

Schmuggler, Jäger, Gaukler, Landvögte, Sturköpfe, Mut und Entschlossenheit. Dummheit und Anmaßung. Sie waren gekommen ihn zu provozieren. Die drei Soldaten und wäre seine Mutter nicht gewesen, es hätte ein Blutbad gegeben. Die Axt hatte Wilhelm schon erhoben. Jetzt waren die Rippen der Mutter gebrochen, Tells Stolz hatte eine Delle und ihr Schuppen mit den Würsten war leer. Des Landvogts rechte Hand aber würde auch jetzt keine Ruhe geben, Wilhelm spürte das, der hatte noch eine Rechnung offen mit ihm, dem Wilderer vom Tell-Hof…

Fingiert. Das Vergehen. So lächerlich. So grausam die Strafe. Dieser Mann. Der Handlanger des Vogts. Entsetzen in der Menge. Ein Schuss. Ein Sirren. Ein Treffer …

Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Thusis, Schweiz, wählte 2007 nach einem Probejahr Island als seine Heimat. Er lebt heute in Reykjavík, arbeitet dort als Autor, Journalist und Touristenguide. Mit ihm würde ich gerne mal einen Ausflug machen!

Ein ganzer Chor von Solisten beschert uns in seinem Update des Tell aufeinanderfolgende Perspektivwechsel. Mitgezählt habe ich nicht, aber die Zahl der um seinen Wilhelm herum erzählenden Protagonisten muss zweistellig sein. Durch dieses Reihumerzählen gewinnt man als Leser:in zum einen einen Rundumblick und zum anderen Einblicke in das innere Erleben jedes Einzelnen.

Diese Erzählform, in der die Hauptfigur erst ganz zum Schluss zu Wort kommt, da geht es ihr nicht gerade gut, ihr Mut aber hat noch immer Strahlkraft, habe sich Schmidt bei einem Isländischen Schriftsteller-Kollegen abgeschaut, lese ich in einem Interview. Wie auch immer, Schmidts Umsetzung ist für mich ein cleverer Schachzug, sie verstrickt mich als Leserin sofort, ich mische mich wahrnehmend unter das Erzählvolk und empfinde es als sehr besonders genau so zu erzählen.

Er greife nach den Kronjuwelen der Schweiz meint sein Verlag, indem er sich den Tell und eine Geschichte ausgesucht hat die bereits X-Mal erzählt worden ist. Für mich leuchtet Schmidts Roman dabei aber ganz eigenständig, ist nicht die bloße Reflektion einer Heldengestalt. Die zahlreichen Innenansichten, die er mir gewährt hat und der ihm eigene Sound, den ich schon bei seinem Kalmann mochte, machen ihn für mich lesenswert. Vielleicht sind es ja die Helden wider Willen, die es Schmidt angetan haben, der Kalmann, der war ist auch so einer, dem man gerne noch einmal begegnen möchte. Ich hoffe, das seine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist. Auch diesmal bin ich eindeutig verliebt. In Joachim B. Schmidts Sprachbilder.

Da will der Tell zum Beispiel “immer hinauf”, wie ein Funke über dem Feuer oder einer schaut im starr nach wie ein geschnitzter Stöpsel. Vielleicht ist das der Schweizer in ihm der an die Oberfläche drängt und der diese Bilder aufleuchten lässt. Charmant, naturverbunden und auch folkloristisch wirken sie auf mich.

Schlicht umwerfend finde ich seine Figurenzeichnung, der Tell ist ein Hartschädel, wie könnte es auch anders sein? Seine Eidgenossen sind ebenfalls harte Burschen, vom Wetter gegerbt, von der Arbeit gestählt. So manch Adliger zieht vor ihnen den Kopf ein, rümpft die Nase weil in ihrer Kleidung ein strenger Stallgeruch hängt.

Ich folge ihnen gebannt, bin unterwegs in einer archaischen Landschaft, fühle mich zurückversetzt in der Zeit, mag es, wie Schmidt sich der Geschichte bemächtigt und sie zu einer eigenen macht.

Der Wahl-Isländer Schmidt verpasst dem Nationalhelden seiner Heimat, Wilhelm Tell, mit dieser Geschichte ein eigenes Denkmal. Modern und augenzwinkernd poliert er diesen historischen Stoff auf. Auf Hochglanz. Er versammelt ein Heer illustrer, streitbarer Recken. Kauzig und mit reichlich Kanten stattet er sie aus. Sie sind handfest, schwingen Äxte und Reden, spalten Schädel.

Seine Kulisse, die Berge, machen demütig, nicht viele wagen sich hoch hinauf, um auf Graten und an Abgründen zu balancieren, denn hier ist man in Gottes Hand. Er schickt rasch wechselnde Wetter und geht man nur um weniges fehl, dann war’s das. Mit dem Leben. Als Mensch sterben, nicht als Feind, das gesteht Schmidt seinen Figuren zu, zeigt sie, besonders den Tell zerrissen, vernarbt, voll Wut, aber auch treusorgend, als Sohn, als Freund, als Vater. 

Wir kennen die Tell-Saga, wissen was uns erwartet und erleben sie hier wider Erwarten neu. Gründlich abgestaubt und ungemein unterhaltsam. Abwechselnd gelesen und gehört kann ich allen Fans des Bücherhörens auch die Hörbuchfassung wärmstens empfehlen. Sie unterstreicht die Vielstimmigkeit des Romans durch den leidenschaftlichen Vortrag von …

Maximilian Kraus perfekt. Kraus, geboren 1984 in München, studierte Schauspiel in Zürich. Rund sechseinhalb Stunden (ungekürzt) wird man von ihm auf das Beste unterhalten. Für mich ist er im Hörbuch eine echte Entdeckung, hatte ihn hier zum ersten Mal auf den Ohren. Wer also lieber hört, der kann sich auf einen Showdown freuen in dem Kraus brilliert und der sich gewaschen hat …

Unschuld und Missbrauch, Rache und Reue. Macht in den falschen Händen. Innere Monologe. Schnee-Ungeheuer und Eishexen. Bäume knicken wie Strohhalme. Dort wo die ewigen Winterschatten wohnen. Der Bär ist zurück. Der Kreis schließt sich.

” … da graut der Morgen überm Grat. Am Himmel breitet sich eine Farbe aus, für die es keinen Namen gibt und in diesen Himmel hinein recken sich die Berge und versuchen das Tageslicht abzuwehren. Sie mögen die Kälte, sie mögen die Schatten, sie mögen den Frost. Zu ihnen will ich hoch …”

Textzitat Joachim B. Schmidt Tell
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