Jeden zweiten Tag nimmt sich in Frankreich ein Landwirt das Leben. Mindestens. Man geht davon aus, das die Dunkelziffer noch weit höher liegt. Nicht nur in Frankreich. Die französiche Gesundheitsbehörde SPF wertete für eine Untersuchung alle Selbstmorde der Jahre 2007 bis 2011 aus und kam zu diesem Ergebnis. Auch das Buch einer Französin bringt es auf den Punkt: Seht nicht weg, sagt Camille Beaurain und schreibt über den Selbstmord ihres Mannes Augustin, er wurde nur 31 Jahre alt, ließ sie allein an einem Sonntagabend mit Hof und Vieh zurück, erhängte sich um 23 Uhr in der Scheune. Schuften von früh bis spät, trotzdem Schulden, tausende Verordnungen die es zu beachten gilt, eine Krise jagt die nächste, von der Romantik des Landlebens, die Illustrierte und Livestyle-Blogs uns zeigen ist das weit entfernt. Gewiß ist, das nichts gewiß ist für viele Landwirte in Europa. Missernten und der Klimawandel mit Hitze und zunehmender Trockenheit, dann wieder Überflutungen nach Starkregen machen mühsam erwirtschaftetes zunichte.
Auf das Schwinden von Gewißheiten hat dieser Schweizer Autor einen nicht ganz alltäglichen und sehr lesenswerten Blick zu diesem Thema geworfen. Ihn habe ich heute mitgebracht:
Tanners Erde von Lukas Maisel – Eine Novelle
Da ist ein Loch. Mitten in seinem Acker. Plötzlich. Ernst Tanner, Bauer, mit Kargheit reichlich und mit Milchvieh spärlich gesegnet, steht davor, schaut hinunter und ein Geruch weht ihn an, der ihn taumeln lässt.
Vom Fenster ihrer Stube aus, hinter dem er jetzt steht, kann man es nicht sehen. Das Loch. Mitten im Feld. Bodenlos. Wie vom Schicksal ausgestanzt. Vielleicht ist es ja gar nicht da. Vielleicht ist es nicht geblieben. Vielleicht hat er alles nur geträumt.
Eigentlich müsst’ da ja auch ein Haufen sein. Da wo die Löcher sind in seinem Land. Wo ein Loch ist, ist immer ein Haufen. Wo sonst ist all die Erde hin und der alte Kirschbaum, der steht jetzt ganz schräg, der Marie, seiner Frau ist das auch schon aufgefallen. Das Loch aber hat sie noch nicht gesehen, weiß nicht wie er einen Stein über den Rand geworfen und gehorcht hat. Wie tief er wohl fällt …
Als er das zweite Loch entdeckt, ist es vorbei mit dem an den Zufall glauben. Er muss etwas unternehmen. Es richtig machen. Damit es weitergehen kann. Der Weizen muss abgeerntet werden und seine Kühe müssen hinaus. Auf die Weide.
Das Beste ist, er deckt die Löcher erst mal ab und überlegt was zu tun ist. Das geht gut bei einem Bier mit Schnapserl unten im Dorf im Staubigen Esel.
Er hätte es ihr nicht verschweigen dürfen. Seiner Marie. Jetzt war es zu spät. Ins Loch gefallen war sie. Weil nach dem alten Kirschbaum hatte sie schauen wollen. Der hing so schief da seit ein paar Tagen. Hatte gedacht, das sie würde draufsteigen können auf die Plane die da am Boden lag …
Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, studierte nach einer Lehre als Drucker Literatur in Biel. Sein Debütroman Buch der geträumten Inseln, wurde mehrfach preisausgezeichnet und liegt zum Glück hier schon bereit. Zum Glück für mich, die mit seiner Novelle Tanners Erde in sein Schreiben eingestiegen und jetzt angefixt ist. Von der Skurrilität seiner Idee, von der kraftvollen Klarheit seiner Sprache, die hie und da eine Prise Schweizer Dialekt enthält und in ihrer Einfachheit hier so ungemein authentisch wirkt. Angefixt von dem Mut, es auf die Spitze zu treiben. Das Unterste zu Oberst zu kehren, davon, dass er seinen Leser:innen ein Gedankenspiel anbietet, das sich so wenig fassen lässt, wie ein Lufthauch und doch haften bleibt.
“Und dann zieht etwas an Tanner. Nicht nach unten, sondern nach vorn, es zieht ihn nach draußen, auf sein Land hinaus. Er steigt übers Absperrband, geht in der Fahrspur das Weizenfeld hoch, hin zum Kirschbaum, legt seine Hand auf die Rinde. Er kann wieder richtig atmen. Der Baum bückt sich übers Loch wie ein alter Mann mit alten Augen, neigt sich hinab mit steifem Kreuz, weil er sehen will, was da unter ihm ist.”
Textztitat Lukas Maisel Tanners Erde
Ein Schreiner oder Zimmermann hätt’ aus dem Tanner werden können, wenn eins seiner Geschwister für den Hof gewesen wär. Gern wär er was anderes geworden. Schon. Jetzt drückt ihn die Schuld nieder. Wegen der Marie und er weiß wenn er laut ausspricht das da diese Löcher sind, dann ist es auch wahr.
Auf einmal ist er ein Bauer ohne Land. Einer mit wundem Land. Einer der ohne es nicht atmen, nicht sein kann. Was mal aus ihm hätte werden können ist egal. Was er ist, das zählt und ohne Land ist er kein Bauer. Alles abgesperrt haben sie ihm. Untersuchung hört er und unterirdischer Hangrutsch und gefährlich.
Eine ausgestreckte Hand. Zurückgezogene Hilfe. Die Kraft schwindet. Aber er ist doch einer von ihnen, nicht nur wegen dem Milchsee, dem Preisverfall müssen sie zusammen halten. Auch, weil selbst aus Mist Energie werden kann, wenn man Mut hat geht viel. Wo aber ist der seine hin?
Ein einfaches Leben stellt Lukas Maisel komplett auf den Kopf. Von jetzt auf gleich. Wer wohl die Idee hatte auch im Druckbild seines Textes halbrunde Lücken abzubilden? Ich finde das genial konsequent! Auch wie Maisel Ton und Handlung verbindet. Wie brüchig und doch klar er seinen Tanner zeichnet. Was ein Schnellzeichner mit wenigen Strichen schafft, erreicht Maisel mit seinen wohldosierten Worten. Er konturiert seinen Helden zunächst und lässt ihn dann durch sein Handeln mehr und mehr an Tiefe gewinnen. Das fand ich überaus beeindruckend.
Vieles lässt Maisel unausgesprochen. So auch die Kinderlosigkeit von Tanner und seiner Marie. Er überlässt seinen Lesern das zu bemerken und zu bewerten, ich glaube das ist ihnen nicht freiwillig passiert. Und so zeigt sich noch eine Leerstelle die schmerzt. Tanners Sprachlosigkeit, die ihn schweigen lässt wo er doch lieber mal mit seiner Marie geredet hätte. Das obwohl sie einander so vertraut und auch zugewandt sind fällt mir auf. Das sie integriert in eine kleine Dorfgemeinschaft leben, die ihnen Anteilnahme zukommen lässt, aber auch jede Menge Gleichmut. Diese Löcher scheinen einzig ihr Problem, das kommt mir bekannt vor, das man Bedauern jederzeit gerne bekommt, wirkliche Unterstützung bei Problemen aber eher suchen muss …
Ein wenig musste ich an Stefan aus dem Siepens Das Seil denken, eine Erzählung die ich auch sehr gemocht habe. Er verbindet ebenfalls Unfassbares mit Alltäglichem und lässt mir reichlich Raum für eigene Deutung. Bei ihm ist man als Leser:in Beobachter:in eines Treibens das nirgendwo Hinzuführen scheint und das doch endet. Denn das tut es. Immer. Auf die ein oder andere Weise. So auch hier. Dramatisch überstürzt. Derweil ich ratlos daneben stehe. Die Schultern hochziehe. Mich frage, wo hätte der Tanner anders abbiegen, wie das Blatt noch wenden können? Keine Ahnung.
Vielleicht ist das ja die Antwort auf alles: Es gibt nicht immer eine. Eine Erklärung für das was uns geschieht. Für die Gewissheiten die uns abhanden kommen. Einen Hinweis auf den Punkt, ab dem man nicht mehr umkehren kann. Das scheint mir gewiß. Jetzt. So wie dem Tanner.
Mein Dank geht an den Rowohlt Verlag für dieses Besprechungsexemplar und an Lukas Maisel für diese berührende Geschichte!
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