Nebenan (Kristine Bilkau)

Zäune sind dazu Grenzen aufzuzeigen, Reviere zu markieren, aber auch um zu schützen. Nicht selten entbrennt ein Nachbarschaftsstreit an einem Zaun, aber auch Zaungespräche hat es hier, wenn man den Blick nach nebenan richtet. Wer lebt da jenseits des Zauns? Könnte man herausfinden, wenn man denn wollte. Wieviel wissen wir von denen, neben denen wir herleben? Tag für Tag. Woche für Woche. Jahr um Jahr.

Nebenan von Kristine Bilkau

Der nächtliche Notruf aus der Bereitschaft führte sie an den Rand einer Badewanne. Im Wasser lag eine tote Frau. Als Ärztin war es jetzt an ihr die Todesursache festzustellen und schon nach den ersten Fragen an den Ehemann kamen ihr Zweifel. Sie würde die Polizei rufen müssen. Wie konnte er seine Frau nicht beim Abendessen vermisst und einmal im Bad nachgeschaut haben? Auch jetzt wirkte er äußerst gefasst, ja abgeklärt auf sie  …

Ein Junge mit Rucksack. Ein Zettel mit kryptischer Nachricht gefaltet und auf der Terrasse versteckt, niemand zu Hause im Nachbarhaus. Verkauft werden soll es. Heißt es. Vielleicht waren seine Bewohner aber auch geflohen. So wie sie. Vor Bedingungen. Wovor auch immer. Vielleicht würden sie  zurückkommen. Wenn das Haus niemand wollte. Lange schon wurde es angeboten. Zwei Mädchen gehörten zur Familie und der Junge mit der Nachricht vermisste sie offenbar …

Vorhang auf für kleine Geheimnisse und für Astrid und Andreas, er schon im Ruhestand vom Lehramt, sie noch Ärztin im Dienst. Ihre Freundin von einst, ihre zerbrochene Freundschaft, wie es anfing wissen beide noch und Julia, sie hat Kunstgeschichte studiert, ist mit Ton aufgewachsen, und mit ihrem kleinen Laden, ihrem Partner und dem Vertrieb neu hier.

Kristine Bilkau, geboren 1974 in Hamburg, Autorin und Journalistin, studierte Geschichte, lebt in Hamburg, erhielt für Nebenan den Hamburger Literaturpreis 2021. Die Begeisterung  und die Anerkennung für diese ihre Geschichte teile ich uneingeschränkt. Sie wirkt ruhig. Auf den ersten Blick. Auf den zweiten tut sich viel. Unter der Oberfläche. Mitten im Leben. Das mag ich.

Ein unerfüllter Kinderwunsch der schmerzt. Ein erster Herzschlag nach sechs Wochen. Ob man ihn wohl auch als Schwangere spürt? Von magischen Tagen und der Angst, dass doch alles so bleibt wie es ist, oder nie mehr so wird wie es war.

Wo genau verläuft die Grenze zwischen aufrichtigem Interesse, Anteilnahme und Einmischung? Bilkaus Heldin Astrid scheint nicht fürs bloße Zusehen gemacht, stillhalten ist nicht ihr Ding. Wie ein Geist im eigenen Haus fühle sie sich, hörte Astrid ihre Freundin sagen und dieses eine Mal ignoriert sie das Gesagte. Mit schwerwiegenden Folgen.

Ein übervoller Briefkasten. Eine Vermisstenanzeige. Noch eine Einmischung zuviel? 

Zwischenmenschliches anreißend und genau beobachtend erzählt Kristine Bilkau von Alltäglichem und Vergangenem, großen und kleinen Sorgen, von Enge, Nähe und Fremdheit, mit viel Fingerspitzen- und Feingefühl.

Kluge Gedanken über Freundschaft und Verwandtschaft werden von Bilkau verflochten wie bei einem Zopf, manche Enden berühren sich, andere nicht. Sätze, die mich nachdenklich machen, auf eine gute Art, spiegeln meine derzeitige Lebensphase.

Kein Kino, kein Kaufhaus, ein Jahrzehnt Leerstand, ein vertrocknendes Zentrum, schreibt Kristine Bilkau und ich nicke innerlich. Auch in meiner Heimatstadt sieht es mittlerweile so aus, sie nennt es Gruselkabinett. Ortsgemeinschaften die zerfallen, Zugezogene die unter sich bleiben, Kinder können und sollen nicht mehr herumstromern. Wie ist das passiert, wann haben wir diesen Grad an Fremdheit erreicht mitten untereinander?

Als ich Kind war traf man sich noch am Abend auf der Straße, saß auf den Treppen vor den Häusern, Eltern spielten mit den Kindern Völkerball, die Alten entkernten in meinen Sommern Kirschen oder schnippelten uns zusehend Bohnen. Da gab es kein Streaming-Fernsehen sondern drei Programme und es hatte noch eine Sendepause. Das Telefon für die Hosentasche und virtuelle Freunde waren noch nicht erfunden. Man wusste noch wer nebenan wohnte, nahm nicht nur bei Abwesenheit Pakete an und fragte den Postboten noch nach dem Namen der Nachbarn.

Bilkaus Figur Astrid schaut edenfalls zurück, mit Sätzen die mich an mein Früher denken lassen. Sie tut das nicht im Zorn, sondern mit einem stillen Bedauern, dass ich genauso sehr mochte wie ihren Erzählton, der mich in einen anderen gegenwärtigen Alltag mit genommen hat.

Wie sie von schleichenden Prozessen erzählt, von dem Zerbrechen einer Freundschaft, von der Überwindung sich nach langer Zeit wieder die Hand zu geben. Von Zuzug und dem Versuch anzukommen. Von dem Traum das Fremde zu Freunden werden könnten. Das hat tatsächlich was von Dörte Hansen und ihrem Alten Land, meine erste Assoziation bleibt, auch Bilkaus nordische Klarheit kommt mir bekannt vor. Dann wieder erinnert sie mich an Juli Zehs Unterleuten und doch ist sie auch eigen und anders und ich höre jetzt auf zu vergleichen. Genieße was ich auf den Ohren habe und höre ihr zu, wie sie der Geschichte nicht nur ihr Etikett stimmlich anheftet indem sie Bilkaus Ton sehr gekonnt aufgreift, sie macht sie zu ihrer:

Heike Warmuth, geboren 5. November 1979 in Potsdam-Babelsberg, deutsche Schauspielerin liest mit Leidenschaft und Empathie für die Figuren, macht sie sichtbar. Unterstreicht ihre Authentizität ganz wunderbar, die Entscheidung für die ungekürzte Hörbuchfassung mit ihren rund 7 Stunden war goldrichtig für mich. Sie hat mich in meine Tage hinein begleitet und manchmal war mir so, als könnte ich um die nächste Biege Astrid oder Julia begegnen. Beim Bäcker oder Metzger einen Schwatz mit ihnen halten, oder diesem anonymen Briefeschreiber gegenüberstehen, der meint Bescheid zu wissen. Über alles und der reichlich Beleidigungen verteilt. Dem hätte ich gerne ins Gesicht gesagt was ich davon halte …

Bilkaus Geschichte hinterlässt offene Fragen, Hoffnungen, zeigt Brüche. Nicht jeder Plan geht auf, nicht jedes Leben läuft gerade aus. Gewohnheiten holen uns ein, wir müssen aufgeben, schweren Herzens. Entdecken eine Ungereimtheit, ein Geheimnis und kommen nicht dahinter. Werden abgestoßen, finden wieder zueinander.

Wie mit der Schere ausgeschnitten, die Ränder glatt aber etwas schief, wirken diese mit liebenswerter Warmherzigkeit erzählten Lebensfragmente, ich male mir aus wie es weitergeht mit Astrid und Elsa, Julias Wünschen und Andreas Sorgen vor der Zukunft, dafür lässt mir die Autorin Raum und dafür mochte ich ihren Roman auch. Für das Prädikat lebens- und waschecht. Das er verdient. Sehr sogar und wenn eines gewiß ist, dann, das nichts bleibt wie es ist. Gut so. Auch für das Nebenan. Es ist nie zu spät in Kontakt zu kommen …

Mein Dank geht an derHörverlag für das Besprechungsexemplar.

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    20. August 2022

    Das freut mich, Dorothee, wieder einen Eindruck den wir gemeinsam haben, ich habe mir auch einen genaueren Blick auf diese Autorin vorgenommen. LG von Petra

  2. Dorothee
    18. August 2022

    Hallo Petra!
    Dieses Buch habe ich unglaublich gern gelesen und danach gleich noch ein älteres Buch von ihr!
    Viele Grüße aus Kiel von Dorothee

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