Tristania (Marianna Kurtto)

Dieser Text empfängt mich wie eine Umarmung und ich lasse mich fallen. Fein ausbalancierte Sätze, lassen mich die Lyrikerin spüren, die in dieser Autorin steckt. Ohne das Original und seinen Ton zu kennen behaupte ich, diese Übersetzung von Stefan Moster ist großartig gelungen.

“Würden die Wellen etwas fühlen, würden sie sich wundern, wenn sie auf die Insel träfen; sie haben geglaubt, ihr Weg wäre endlos, eigentlich sogar, ihre Welt wäre die Unendlichkeit. Aber jetzt prallen sie auf grauen Stein und schwarzen Sand, werden in die Höhe geschleudert und zerstieben, regnen in wütenden Spritzern auf die empfindungslose Uferlinie herab.”

Textzitat Marinna Kurtto Tristania

Gemeint ist ein Strand, fern ab von allem, hier leben Jon und seine Mama Lise, der der Mann fehlt, neu verliebt hat der sich, wegverliebt von ihnen, nach London. Ihre Freundin Elide und ihre sechs Kinder mit Mann, der mit den Augen lachen muss weil ihm die Zähne dafür fehlen. Die Lehrerin Martha und ihr Ehemann Bert die keine Kinder bekommen können.

Allen fehlt irgendwie etwas hier auf Tristan da Cunha. Der entlegensten bewohnten Insel der Welt, mit rund 180 km2 Landfläche liegt sie mitten im südlichen Atlantik. Nicht nur im Oktober 1961 als diese Geschichte beginnt. Man zahlt auf Tristan in Pfund Sterling und im Mai 2021, so lese ich, zählte die einzige Stadt Edinburgh of the Seven Seas 243 Einwohner. Insgesamt 6 Inseln gehören mit Tristan da Cunha, die ihre Hauptinsel ist, zu diesem britischen Überseegebiet. Nie davon gehört? Also ich musste jedenfalls meinen Atlas auspacken und entdeckte dann eine dem Namen nach bekanntere Insel-Nachbarin: St. Helena. Genau. Ihr denkt auch gleich an Napoleon Bonaparte, ihn hatte man seinerzeit hier interniert.

Tristania von Marianna Kurtto

Ihren Berg umhüllte heute ein Lichtkranz. Lise zögert auf ihrem Spaziergang mit Elide. Seltsam. Fiel nur ihr das auf? Elide zog jedenfalls plaudernd weiter, belehrend wie meist, war sie doch der Meinung Lise dürfe nach der Trennung von ihrem Mann, mit ihren nur vierzig Jahren, nicht alleine bleiben. Lise hingegen war in Sorge, nicht wegen des Fehlens eines Mannes in ihrem Leben, sondern wegen dieses Lichtes, das für sie nichts Gutes verhieß. Sie wollte nach Hause. Zu ihrem Sohn. Wissen wo er war. Jetzt sofort …

“Dennoch gehe ich noch einmal fort. Ich sammle meine Beine und Hände ein, mein Herz,  das verrückt geworden ist und eine sonderbare Sprache spricht. Sei still, sage ich zu ihm …”

Textzitat Marianna Kurtto Tristania

Seekrank. Der Westwind schob ihn nach Hause, warf ihn auf die Planken, er half sich auf, nur um gleich wieder zu Boden zu gehen. So oft schon war er auf dem Meer zwischen hier und dort, und wieder unterwegs nach Daheim gewesen. Wo er einsam war, aber niemals allein. Das Diesmal aber war anders. Etwas hielt ihn zurück. Band ihn. Rief nach ihm. Der Druck auf seiner Brust wollte nicht weichen und die mitgebrachten Rosen für Lise welkten bereits. So wie das, was er für sie empfand schwand je näher er seinem, ihrem Zuhause kam. Als wüssten die Blüten davon …

Marianna Kurtto, geboren 1980 in Helsinki, hat in Finnland bislang fünf Gedichtbände und zwei Romane veröffentlicht. Der gebürtige Mainzer Stefan Moster hat Kurttos Roman ins Deutsche übertragen und von ihm darf man viel erwarten. Wurde er doch zuletzt in diesem Jahr nicht nur für seine übersetzerische Gesamtleistung, sondern auch für seine Übersetzung des finnischen Klassikers Im Saal von Alastalo von Volker Kilpi ausgezeichnet.

Nomen est Omen und wie könnte es passender sein? Der Mare Verlag, dem ich herzlich für dieses Besprechungsexemplar danke, hat sich die Geschichte der finnischen Autorin Marianna Kurtto geschnappt. Es ist ihr Debütroman und auch ihr erster der auf Deutsch erschienen ist.

Ich bin verliebt. Eineindeutig. Mein Herz klopft jedesmal freudig wenn ich diesen Buchschatz zur Hand nehme. Abtauche zwischen seinen Zeilen, verschwinde zwischen seinen Sätzen. Das Meer vor Augen, die Gicht die sich schäumend am Ufer bricht. Den Wind spüre, der verhindert das Schiffe anlanden können. Nach Worten suche ich beständig um zu beschreiben wie sehr mir gefällt was ich da lese. Wie können sie mithalten mit dieser Wortakrobatin namens Kurtto?! Ihrem Satzbau, dem Konstrukt ihrer Geschichte. Diese Empathie, die sie für ihre Figuren hat, für jede einzelne von ihnen, auch ich habe diesmal keinen Liebling, das Sehnen, das ihnen allen gemein ist, ich fühle es. So sehr.

Ein Sehnen nachdem was hinter dem Horizont liegt. Nach der Außenwelt, wie sie hier sagen. Furchtlos müssen diejenigen sein die sich hinauswagen. Die die Gemeinschaft verlassen, ihren Schutzraum. Ihre Insel. Wir wissen, das ihnen ein Tag bevorsteht, an dem alle ihren Mut finden müssen und die Antwort auf die Frage: Wo gehöre ich hin? Von Herzen. 

Natur und Meer haben ebenfalls ihre Rollen zu spielen und tun es auch. Kurtto zaubert mit ihrer Szenerie viel mehr als nur Kulissen. Auf der 1506 von dem portugiesischen Seefahrer Tristão da Cunha entdeckten Insel lauert das Unheil in der Tiefe. Von den Tagen der ersten Besiedlung im Jahr 1790 bis zum Oktober 1961 verzeichnete man keinerlei vulkanische Aktivität auf Tristan de Cunha. Das Leben hier war einfach, jeder kannte jeden und auf einen Schlag änderte sich alles, mussten die Bewohner lernen, wer hier der Herr im Haus war. Buchstäblich verloren sie den Halt, die Erde bebte, Risse taten sich auf. Ihr Berg explodierte.

Durch und durch poetisch, ganz und gar einzigartig ist Kurttos Stil. Kurze und lange Kapitel wechseln sich ab und mit Ihnen erlebe ich unterschiedliche Sichten. Eine Insel die auf den ersten Blick nicht viel zu geben hat im Kontrast zu einer Stadt in der offenbar der Überfluss zu Hause ist. Winterschuhe kaufen kann man hier und näht sie sich nicht aus dem Fell eines zuvor geschlachteten Ochsen. Warme Socken hat es ausreichend und das Wasser kommt hier aus Rohren.

Schwefelgestank und Angst. Seeräuberschätze. Gesunkene Schiffe, ein ganzer Zirkus ertrunken, bis auf den Löwen. Dem Wasser und den Walen zuhören. Man muss nicht immer alles sehen.

Lava und Asche, bebende Erde und die Saat von Meeresbohnen. Die neue Welt sehen und die alte vergessen. Die Einfachheit der Tage schwindet. Verlassen, verloren, aufgegeben.

Magisch! Es prickelt noch immer auf meiner Haut. Der Boden schwankt noch unter mir! Einmal in die Hand genommen, konnte ich dieses Kleinod von einem Buch nicht mehr weglegen. Wie ein Gedicht in Langform, das jegliches Versmaß außer acht lässt, faszinierte es mich mit seinen Multiperspektiven ebenso wie stilistisch von der ersten bis zur letzten Silbe. Mal icherzählend, mal aus der Erzählersicht schildernd, erwischt mich dieses allgegenwärtige Sehnen frontal! 

“Plötzlich versteht sie, dass hinter der Karte im Klassenzimmer diese Städte liegen, diese Straßen, so wirklich wie all das, was sie auf der Insel zurückgelassen hat. Die Welt ist an jedem Punkt gleich wirklich.”

Textzitat Marianna Kurtto Tristania

Nie zuvor habe ich so über das Vermissen, über Verlorenheit, das Gefühl von Heimat gelesen wie bei Marianna Kurtto. Ihre Figuren wissen teils gar nicht was sie vermissen und tun es dennoch. Sie vermissen nichts sind sie zu Hause. Was aber ist ein Zuhause? Kurtto fasst diese Gedanken so ein, dass ihr Text wie ein Gesamtkunstwerk aus Emotion und Worten wirkt, aus Klarheit und Ungewißheit und wie hat Stefan Moster das geschafft, eine so zarte Schlichtheit und eine Fülle zu übertragen, eine die mich ganz still machen. Ich verharre. Für den Moment. Auf der Schwelle zwischen Nähe und Distanz. Auf diesem schmalen Grat vermag Kurtto zu balancieren. Als wäre sie schwerelos! Die Bilder, die in mir entstehen sind meine und ihre. Die ihrer Figuren. Unsere. Nur zwei Monate zeichnet sie nach, vorwärts erzählend. Durch geschickt platzierte Rückblenden und einen Sprung in die Zukunft, wirken sie lebensumspannend.

Zögert nicht, möchte ich am liebsten laut rufen, lest diese Geschichte auch, habt dabei immer im Kopf was die Natur hier ausgelöst hat ist wahr.

Spürt ihr nach, dieser unstillbaren Sehnsucht. So wie ich. Träumt Euch nach Tristan, London oder ja, nach Kapstadt. Begebt Euch auf eine von Stürmen umtoste Reise, fahrt nach Hause mit denen, “denen ihr Zuhause am wichtigsten ist, für die die Außenwelt ein Ort jenseits des Herzens ist(Textzitat) und gebt gut auf Eures acht! Auf Eure Herzen. Denn wer so schreibt, vermag sie Euch zu brechen …

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