Taghaus Nachthaus (Olga Tokarczuk)

*Rezensionsexemplar*

Mittwoch, 22.01.2020

“Der Erzähler ist immer lebendig, in gewisser Weise unsterblich. Er geht über die Zeit hinaus.”

Textzitat Olga Tokarczuk Taghaus Nachthaus

Nowa Ruda. Im schlesischen Riesengebirge unweit der tschechischen Grenze versammeln sich in Olga Tokarzcuks Roman Taghaus Nachthaus die skurrilsten Figuren. Wie rezensiert man einen Roman, der keinem Genre wirklich zuordenbar ist? Weltliteratur, als solche wird er von belesenen Kritikern eingeordnet. Sie finden auch Gründe dafür warum das so ist. Wie ist es mir ergangen, mit einem Roman, der einem nicht leicht Zugang gewährt? Der ganz ohne durchgängige Handlung auskommt? Sieht man einmal davon ab, das alle Handlungs-Fäden, alle Träume, an einem Ort zusammentreffen …

Taghaus Nachthaus von Olga Tokarczuk

Marta ist es, die wir zuerst in diesem Reigen  kennen lernen. Sie versammelt alle Geschichten in sich und um sich. Entspringen Sie aus ihr? Sie ist eigentlich gelernte Perückenmacherin, gefärbte Haare sie nicht, weil diese so keine Gedanken mehr speichern können, und die alt ist, grau und gebeugt. Die schlaflose Marta, die des Nächtens die Schlafenden beobachtet. Mit ihren lebensweisen Aussprüchen vermag sie nicht nur ihre Zuhörerin, die namenlos bleibt in dieser Geschichte, sondern auch mich, ein ums andere Mal zu verblüffen. So ist sie, die Pilzsammlerin u.a. der Meinung, dass es keine giftigen Pilze gibt, nur falsche Unterscheidungen. Tja, da ist wohl was dran!

Drastisch und deutlich ist Tokarczuk, dann auch wieder verzweifelt, wenn wir bei Marek Marek ankommen. Er erhebt die Hand gegen den eigenen Vater im Suff, bedrängt Frauen und lässt sich niederprügeln nach Kneipenbesuchen. Sie sperren ihn weg, er kommt wieder frei, und er spürt diesen Vogel in sich, der flatternd mit den Flügeln schlägt, sich er beruhigt wenn er wieder trinkt. Mit mythischen Aspekten spielt Tokarczuk, ein Hauch von Murakami weht mich an …

Olga Tokarczuks Taghaus Nachthaus ist 1998 erstmals erschienen, in deutscher Übersetzung dann 2002. Seine fragmentarische Erzählform macht in ungewöhnlich und zu etwas besonderem, aber nicht zu etwas, was leicht zu konsumieren ist. Esther Kinsky, ihre Übersetzerin, hatte hier jede Menge zu tun, alle losen Enden in den Händen zu behalten, mit dieser Sprache Schritt zu halten, mit Tokarczuks Ton, der wechselhaft ist wie das Wetter im April. 

Ich begegne einer Traumsammlerin, die zunächst über ein Zeitungsinserat, dann über das Internet tätig wird. Sie unterhält sich mit Marta, die ihre Träume aber vor ihr verbirgt. Lieber erzählt sie ihr von denen der anderen. So wie sie die Haare von Fremden zu Perücken knüpft, bedient sie sich auch ihrer Träume, als brauche sie keine eigenen.

“Wenn Träume Begebenheiten aus der Vergangenheit wiederholen, wenn sie sie aufbrechen, in Bilder verwandeln, sie durch das Sieb der Bedeutungen rinnen lassen, dann kommt es mir so vor, dass die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft unerforschlich und unbekannt bleibt.”

Textzitat Olga Tokarczuk Taghaus Nachthaus

Auch sie treffe ich, eine Bankangestellte mit ihrem besonderen Traum, der mit einer Stimme im Ohr beginnt und splitternd zerschellt wie Glas. Es geht um Erbsen, um Rhabarber und um Hühner, und um Archemanes, einen der Lehrer des Pythagoras. Es geht um Grenzschutz und um Schmuggler, hier auf der Naht zwischen Polen und Tschechien, und um die Deutschen, die wurzel- und rastlos hierher kommen, auf der Suche nach denen, die sie einmal waren, geht es auch.

In ruhelosen Nächten lerne ich das Hören, denn dieses ist nur in der Dunkelheit und Schutz der Nacht möglich:

“Ich hörte die Holzwürmer in den Beinen des Kieferntisches. In der Küche startet der Kühlschrank mit ohrenbetäubendem Brummen zu seinen nächtlichen Eisflügen. Die Motten kitzelten den kühlen Raum der Nacht. Und das hysterische Läuten der Tropfen, die aus dem Wasserhahn in der Küche fielen, schnitt das alles in kleine Stücke.”

Textzitat Olga Tokarczuk Taghaus Nachthaus

In Tokarczuks Geschichte fühle ich mich wie in einem Geisterhaus mit unzähligen Türen. Gleich welche ich öffne, hinter jeder verbirgt sich eine neue Geschichte. In den Schränken auch wie mir scheint. Unwirkliche, phantastische und reale Begebenheiten spuken hier durch die Räume und jetzt auch in mir. Ein Luftzug weht die Gardinen beiseite und gibt den Blick frei nach draußen, auf den abgelegenen Ort dort im Tal, der Anfang und Ende aller Ereignisse ist. Ein ganz famoses Konstrukt ist das, das mich wirklich herausgefordert hat und so jenseits meiner Lesekomfortzone ist, wie eine Geschichte nur sein kann. Anfangs wollte ich schon wieder lassen von ihr, konnte aber nicht, weil sie etwas magisches hat, das ich nicht griffig benennen kann. Wie im Rausch hat sie mich weiterlesen lassen. In einer Nacht, in der mich der Schlaf nicht abholen wollte, zwischen Wachen und Träumen. Aufgewühlt hat mich dieser Text zurück gelassen, aufgewühlt und immer noch hungrig auf mehr von ihr, Olga Tokarczuk.

Es geht um Prophezeiungen, und um den Weltuntergang ebenso wie um Champignons, Röhrlinge und Boviste. Um Knollenblätterpilze auch, um Fliegenpilztorten, für sie gibt es jeweils auch ein Rezept …

Es geht um Unfälle, gebrochene Nasen und um den Winter in dem immer alles Schlechte geschieht. Es geht um ein Feuer, um Überschwemmungen, um Hellseher, um die Zahlenkolonnen der Ephemeriden, um Wahrsageverfahren und um Fortsetzungsromane aus dem Radio. Kurios geht es zu und die Aneinanderreihung all dieser Begebenheiten verströmt eine Faszination die förmlich süchtig nach diesem Text macht, wer weiß vielleicht sind ja auch die Pilze Schuld? Auf sie komme ich noch einmal zurück …

Es geht um den Krieg und um das Heulen von Wölfen in frostklaren Nächten. Um Schlösser und Rosenzüchter. Um Träume, und es geht um Ängste und das man ihnen beikommen kann, wenn man aufhört zu fragen wann alles angefangen hat.

Ich erfahre von Felsnischen, von Höhlen und Urzeitwesen, von einem Ort, abgeschirmt von hohen Bergen, in dem man von Oktober bis März das Sonnenlicht nicht sehen kann. Ich blicke auf Pietno im Eulengebirge, ein Ort an dessen Rand sich Reh und Fuchs Gute Nacht sagen. Und dann geht es noch um Heilige, die in Bildstöcken und in Kapellen wohnen, und um eine ganz besonders, um Wilgefortis, die Heilige Kümmernis von Schonau. Ihr hatte der Herr Jesus sein Gesicht gegeben, um sie davor zu bewahren, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, weil der Vater sie in eine Ehe zwingen wollte.  Eine Heilige, die heilende Hände hatte, die vom Teufel mehrfach versucht wurde, die Kinder vom Tod zurückholte und Werwölfe von ihrer Bessenenheit kurierte, die vom eigenen Vater eingemauert wurde und durch dessen Hand den Märtyrertod fand. Diese Episode gehört tatsächlich zu meinen Lieblingsszenen, weil sie sprachlich so weich, so märchenhaft und liebevoll geschrieben ist, in all ihrer Dramatik und so voll von Hoffnung ist. 

“Pilze sind Hypnotiseure, diese Eigenschaft haben sie anstelle von Krallen, schnellen Beinen, Zähnen und Verstand.”

Textzitat Olga Tokarczuk Taghaus Nachthaus

Ja, und hier sind SIE also wieder, wie versprochen, die Pilze, so kommen reichlich vor und das auf psychedelische Art. Dieser Pilz hier, Fammodina wächst im Winter, er ernährt sich von abgestorbenem Holz, duftet, ist honiggelb und schmeckt herrlich. Leckere Kroketten kann man zum Kaffee davon machen. Dieses Rezept gibt es gratis obendrauf, also wenn ihr mal einen findet, ich halte die Augen offen …

Methaphern kann diese Autorin auch, und wie. Sie beschreibt Gerüche so,  z.B. den des Alters, dass ich nur Luft zu holen brauche und ich erinnere mich. An die Wohnung meines verwitweten Großvaters, als er alt war und schon lange alleine lebte.

Hier hält man einen Roman in Händen, bei dem es nicht um die Handlung geht, es geht um das Erzählen und er hat Sätze, so viele schöne, vor denen man einfach niederknien möchte, andächtig und schwelgend. Gedankengänge enthält er, denen man folgen möchte und andere, die man von sich stoßen will.

Es geht um das Leben, um das Alter, das Altern, um Betagtheit und um das Recht langsam zu handeln. Es geht um Sie und Ihn, in einer Zeit, die die Rastlosigkeit von Quecksilber hat. Es geht um Häuser, um ihr Inneres, um ihre Dächer und Dachböden. Um Ordnung auch, um Mottenkugeln und um Sommersachen in Schachteln, um mit Zeitungspapier ausgestopfte Schuhe. Um Alltägliches und um Besonderes, um alles, um nichts, und um die liebevolle Beschreibung einer Stadt: Nowa Ruda.

“Menschen ändern sich, sie wachsen aus alten Situationen wie ein Kind aus der Kleidung. Die Zeit fließt und ändert alles. Es gibt große und kleine Kriege. Die großen ändern die Welt, die kleinen den Menschen. So ist es eben.

Textzitat Olga Tokarczuk Taghaus Nachthaus
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