Straffers Nacht (Wolfgang Wissler)

Zwischen Mai und September 1945 internierten die Alliierten unter us-amerikanischer Führung im Palace Hotel in Bad Mondorf, Luxemburg die hochrangigen deutschen Militärs und Nazigrößen, derer sie hatten habhaft werden können. Unter ihnen Hitlers
Reichsluftfahrtminister und Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Wilhem Göring uns sein Außenminister, Joachim von Ribbentrop. Das “Lager” wurde auf den Codenamen Ashcan getauft, zu Deutsch Ascheimer. Die Gefangenen wurden bewußt exzellent untergebracht. Durch diese Art der Unterbringung erhoffte man sich bei den anstehenden Verhören mehr Kooperation und Zugänglichkeit. Das Camp Ashcan war auch der Wartesaal für den finalen Prozess, den man den Gefangenen in Nürnberg machen würde. In einem von insgesamt 13 Prozessen ging es dort um die Anklage der sogenannten Hauptkriegsverbrecher, der erstmals in seiner Geschichte vom Internationalen Gerichtshof verhandelt wurde. Unter den zum Tode Verurteilten war auch Göring, der seiner Hinrichtung allerdings durch Eigeneinnahme einer Zyankalikapsel zuvorkam.

Um einen fiktiven Zeugen in diesem Prozess, selbst ein SS-Offizier von Rang, geht es in Wolfgang Wisslers Roman. Er nennt ihn Erich Straffer.

Voranstellen möchte ich dieser Rezension aber zunächst ein Gedicht des österreichischen Lyrikers Erich Fried (*1921, +1988) und es für sich stehen lassen:

Erich Fried (*1921, +1988):
nach Auschwitz

Wünsch mir nicht Glück
zu diesem Glück
dass ich lebe

Was ist Leben
nach soviel Tod?
Warum trägt es
die Schuld der Unschuld?
die Gegenschuld
die wiegt
so schwer
wie die Schuld der Täter
wie ihre Blutschuld
die entschuldigte
abgewälzte

Wie oft muß ich sterben
dafür
dass ich dort
nicht gestorben bin?

Straffers Nacht von Wolfgang Wissler

Vor rund zwanzig Jahren trug Erich Straffer noch eine ganz andere Uniform. Die eines SS-Generalleutnants. Heute ist er ein Mann der Nacht. Ein Wächter, ein Nachtwächter und durchstreift im Auftrag seines Chefs große Fabrikhallen. Die, in denen tags das Wirtschaftswunder brummt und in den Nachts der Ofen nicht ausgehen darf. Dort, in den Schatten hängt er seinen Gedanken nach und wartet. Wartet noch immer auf seine Bestrafung. Mit Präzision und deutscher Gründlichkeit hat er getan, was er getan hat. Ohne Widerstand. Ohne Klage. Zu seinem Alltag gehörten Massenerschießungen von “nichtarischen Staatsfeinden”, Massaker jeglicher Art und die Organisation eines der bedeutendsten Lager. Ausschwitz. 

Deutschland erholt sich. Aber er tut das nicht. Ihn hat man abgehängt, so empfindet er das, während andere wieder groß werden. Als wäre nichts geschehen. Verantwortliche des Regimes, Drahtzieher, die mit heiler Haut davon kommen. Sie heißen Neckermann, reiten Dressur und werden zum Versandhauskönig. “Edle Wilde und ein blonder Held. Und immer schönes Wetter. Ein Kassenknüller.” Die immer noch gleichen Filmcrews drehen jetzt keine Propaganda mehr. Man dreht jetzt Winnetou. Der Schatz im Silbersee. In Jugoslawien.

Wolfgang Wissler, geboren 1960 in Basel, Politredakteuer einer süddeutschen Tageszeitung, legt mit Straffers Nacht seinen dritten Roman vor. Als ich ihn am Stand des Pendragon Verlages auf der Frankfurter Buchmesse entdeckte, mich hinsetzte um nur kurz reinzulesen, hatte er mich sofort am Haken. Ich darf mich an dieser Stelle rechtherzlich bedanken für das Besprechungsexemplar, dass ich direkt mitnehmen durfte.

Wissler tacktet seine Sätze kurz, sie prügeln emotional auf mich ein, die Dunkelheit, in die er mich stürzt, kann ich lange nicht abschütteln. Er braucht nicht viele Worte und ich habe sofort ein Bild seiner Figur, habe seine Szenerien im Kopf. Höre es irgendwo in der Nacht bei fahlen Licht tropfen. Sehe mich Fragen ausgesetzt, die im Kopf im Kreis laufen und die Erinnerungsbilder erzeugen, die nicht nur das Romanpersonal bis in deren Träume verfolgen.

Es passiert mir äußerst selten, das mich jemand vom ersten Satz an so für sich und sein Schreiben einnimmt, thematisch und stilistisch und ich frage mich dann immer: Wie hat er das geschafft? Das ist Literatur für mich und Wolfgang Wissler zeigt für mich perfekt was sie vermag. Sie muss nichts aus den Schatten holen, damit wir verstehen. Wir können durch sie in diese Schatten eintauchen.

Schuld. Um sie geht es. Auch für Straffer. Denn er hat überlebt. Körperlich unbeschadet. Ein Mann, der sich in die Reihe derer stellt, die schweigen. Es geht darum, die eigene Schuld nicht nur zu spüren, sondern auch anzuerkennen. Was er nicht schafft. Wer ist dieser Straffer?

Für die einen Lichtgestalt, für die anderen, für seine Frau, nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Unbarmherzig. Das soll er gewesen sein. Gnadenlos und unmenschlich. Ein Herrenmensch. Dem Zwang verhaftet, der Mission verpflichtet. Kein Wendehals. Nein, treu und ergeben. Einst gab er Gesellschaften. Heute schleicht er sich tagsüber ins Kinohalbdunkel zu Romy Schneider und Nachts in die Schatten einer Fabrik. Er scheut das Licht, wie die Ratten. Aber nicht aus Furcht, sondern aus Scham, man könne erkennen was aus ihm geworden ist.

Aus dem Mann, der mit Hitler am Kartentisch stand. Der noch immer in ein funktionierendes Kameradennetzwerk eingebunden ist, wo man sich gegenseitig deckt.

Dann wieder sagt er Sätze, die mich zweifeln lassen. Will ich ihm glauben er habe jetzt Skrupel? Das Böse ist banal, schrieb Hannah Arendt in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem und ich glaube ihr. Schaue ich auf diesen Mann.

Er entsetzt mich.

Seine Gedanken, die provokant sind bis zum Anschlag. Brutal und niederträchtig. Mit Überzeugungen, die giftig sind, die er vor mir ausgespuckt wie bittere Galle. Dieser Roman will nicht gefallen, er tut Not. Er fragt uns, wo sind sie? Die Täter von einst, in diesem neuen Deutschland. Täter, die vorgaben lediglich Befehlsempfänger gewesen zu sein? Sind sie Nachbar, Hausarzt, Politiker oder gar Angehöriger? Haben sie Söhne, Enkel, Töchter in diesem Geist erzogen?

Erich Straffer ist und war kein Mann vieler Worte. Er spricht durch seine Taten. Wissler bleibt als Erzähler eng bei ihm und teilt seine Gedanken mit uns. Man will sich die Ohren zuhalten. Bei den Gesprächen unter “alten Kameraden” und dann wenn er uns in seinen Kopf lässt.

In der Düsternis, die nur in diesen Verbrechen nisten kann, trifft Straffer auf einen Mann, der auf Rache sinnt, den mehr mit ihm verbindet, als wir ahnen. Straffer ist auf der Hut, beider Zusammentreffen kann kein Zufall sein.

“Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat,” wird 1952 Bundeskanzler Konrad Adenauer zitiert, als er die Übernahme von Beamten aus der Nazi-Zeit rechtfertigt. Planten sie vormals Todesfabriken, konstruierten Gaskammern, organisierten Gefangenentransporte, wurden sie Teil des Wiederaufbaus. Als Lehrer, Banker und Juristen.

Der “Stern” titelte unlängst: “Justizminister beklagt Zunahme antisemitischer Straftaten.” Die Rede ist von Bayerns Justizminister Georg Eisenreich, der bei einem Treffen in München auch “das laute Schweigen von Teilen des deutschen Kulturbetriebes” angesichts des Angriffes auf Israel thematisiert habe und der eine “ungute Entwicklung” in Deutschland und Europa bemerke.

Der Schweizer Autor Wolfgang Wissler wirft mit diesem Roman einen eigenen, wie ich finde außergewöhnlichen Blick auf das antisemitische Gedankengut, dass die Welt einst in Brand gesteckt hat und auf das Danach. Er wagt eine Innenansicht, die einen schaudern macht und seziert dabei seine Hauptfigur mittels messerscharfer Sätze. Mir graut vor ihr.

Da versucht dieser Straffer doch tatsächlich, ob er es schafft, dass ich mit Milde auf ihn schaue! Er ist kein Opfer, kein Täter. Er ist ein Monster! Die harten Schnitte, der Halbschatten und die nächtliche Finsternis sind exzellent gewählt um ihn zu umstellen. Wisslers Geschichte ist darüber hinaus ungeheuer gut erzählt. Fakten werden so eingewoben, dass sie sich übergangslos mit der fiktiven Geschichte mischen, was überaus bemerkenswert ist. Er lässt mich recherchieren, weil er einfach geschehen lässt, nicht groß erläutert und ich denke, ein paar Stunden mehr dazu im Geschichtsunterricht würden gut tun. Hätten gut getan.

“Sie sitzen auf Bänken am Rande des Spielplatzes und schauen höchst zufrieden ihren
Töchtern und Söhnen beim Schaukeln, Wippen, Sandeln zu. Henker privat, denkt Straffer. Mörder wie du und ich.”

Textzitat Wolfgang Wissler Straffers Nacht

Spannend ist dieser Roman auch noch, das mag ich gar nicht sagen, weil darum geht es nicht. Wie geschickt die Handlung konstruiert ist wird zur Nebensache, beklemmend, bedrückend, ist deutlich zu milde, um zu beschreiben wie es ist als Leser:in durch die Augen dieses Mannes zu sehen. Die Konfrontation mit diesem Gewaltmenschen ist nur schwer aushaltbar. Diese Kälte, seine Gleichgültigkeit. Wie dieser Kerl permanent sein Handeln relativiert um es vor sich zu rechtfertigen. Treibt mich um. Wühlt mich auf. Noch lange nach dem Lesen. Ein Paukenschlag. So schreibt man gegen das Vergessen! Danke, dafür Wolfgang Wissler!

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