Sibir (Sabrina Janesch)

In den Jahren zwischen 1990 bis 2020 wurden in Deutschland 2,2 bis 2,6 Millionen (Spät-)Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen. Ab 1992 die meisten von ihnen aus Kasachstan (935.000), lese ich in einem Internet-Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung. Kamen zu Beginn der Aufnahme 1950 noch die meisten Aussiedler aus Polen, änderte sich im Verlauf der folgenden Jahre sowohl die Anzahl der jährlich Zuwandernden, als auch die Länder aus denen sie auswanderten. Ihren Scheitelpunkt erreichte diese Zuwanderungswelle 1990 mit 397.000 Personen in diesem Jahr.

Nackte Zahlen, die wenig darüber sagen, welche Herausforderungen sich daraus für alle Beteiligten ergaben und ergeben. Besonders für und in kleineren ländlichen Gemeinden, die sich von jetzt auf gleich einem hohen Anteil an Menschen gegenüber sahen, die nicht ihre Sprache sprachen und umgekehrt. Viele der Neubürger kamen in engen Wohnheimen unter, in meiner Heimatstadt waren das leerstehende Kasernen. Sprachkurse starteten oft erst Monate später. Es gab kein wirkliches Integrationsprogramm.

Noch immer entzünden sich Diskussionen daran, ob es richtig war, dass überwiegend die Gemeinschaft der Beitragszahler Rentenzahlungen und das Aufholen häufig überfälliger Zahnbehandlungen bei dieser Personengruppe getragen haben oder ob sich der Staat stärker hätte einbringen müssen.

Noch heute gibt es russlanddeutsche Communities, in denen “die Alten” unter sich bleiben, russisch sprechen und russisches Fernsehen schauen. Innerhalb der russlanddeutschen Gemeinschaft nennt man sie “Russakis” und meint damit, sie sind “noch nicht Deutsch aber aber auch nicht mehr Russisch“.

Von einem Leben in diesem Dazwischen, am Rand, erzählt der Roman “Sibir”, von einer von mir hochgeschätzten Autorin, am Beispiel der Familie Ambacher:

“Mein Vater, der sein Leben lang Geschichten erzählt hat, kann sich nicht erinnern und meine Mutter, die ein Leben lang zugehört hat, will sich nicht erinnern.”

Textzitat Sabrina Janesch Sibir

Sibir von Sabrina Janesch

Stimmen in seinem Kopf. Was gewesen war vergessen. Ein Leben lang hatte sich Leilas Vater gegen die Geister der Vergangenheit zu Wehr gesetzt, gegen die Dschinns der Steppe wie er sie nannte. Was ein Feuer einst nicht vermocht hatte, in dem er seine Tagebücher hatte aufgehen lassen, um seine Erinnerungen zu ersticken, erledigte jetzt die Demenz. Er konnte sich nicht mehr erinnern und in seinen lichten Momenten hielt er genau das nicht aus. Ihre Mutter fühlte sich machtlos und eine Klinikeinweisung war ihrer Meinung nach unabwendbar. Deshalb war Leila jetzt hier, auf der Suche nach einem Ausweg für ihren achtzigjährigen Vater und nach Antworten. Sie entscheidet sich aufschreiben, was ihm noch geblieben ist, will aus den vielen Geschichten und Fragmenten ihrer Kindheit, der Kindheiten ihrer Eltern eine gemeinsame Geschichte machen. DIE eine Geschichte.

Die ihrer Familie, einer Familie von Landwirten, die ursprünglich aus dem Egerland stammte. Ihre Vorfahren waren einst einem Aufruf Kaiserin Maria Theresias in das bis 1918 österreichisch-ungarische Galizien gefolgt, das 1939 von den Sowjets besetzt worden war. Die dann 1945 Hunderttausende deutscher Zivilisten von dort nach Kasachstan verschleppten, darunter ihren Grossvater und Vater.

“Sibirien steht vor mir auf dem Tisch, dreimal, auf Deutsch, Russisch und Kasachisch: Sibirien, Sibir, Tosaq.”

Textzitat Sabrina Janesch Sibir

Nach Sibirien hatten sie ihren Vater Josef, der damals erst zehn Jahre alt gewesen war und seine Familie deportiert. Sibirien, schreibt Sabrina Janesch war der Tod. Man erzählte sich von ihm mit vor Schreck geweiteten Augen und hinter vorgehaltener Hand. Man warf die unfreiwilligen Exilanten in ein Dorfleben unter Kasachen, verbot ihnen ihre Sprache. Pferchte sie zusammen. Sie spürten rasch, im Dorf waren sie nicht willkommen, bis der Großvater, ein Schreiner durch sein handwerkliches Geschick und fachkundige Reparturen dafür sorgte, dass man sie zumindest in Ruhe ließ. Unter den Kindern war das anders und für Josef war es ein hartes Brot zu bestehen.

Minus fünftig Grad hatte es in der Winternacht gehabt, als die Bäume platzten und die Wölfe kamen und eine wilde Hatz begann, während ihnen ihre Spucketröpfchen in der Luft gefroren. Am Ende sollte Josef einen Mantel aus Wolfsfell tragen, der hielt ihn warm und plötzlich auch die gehässigen unter den Dorfkindern auf Abstand.

Als sie Anfang der 1950ziger Jahre nach Deutschland entkamen und am Ortsrand von Mühlheide, im Süden der Lüneburger Heide blieben, nannte man sie “die Verschleppten”, zivile Gefangene des Zweiten Weltkrieges, eine zehnjährige Verbannung hatte sie geprägt. 

Leilas Vater Josef fasste beruflich Fuß, ließ hinter sich, heiratete, fuhr einen BMW war viel auf Dienstreise. Behielt seine Melancholie und seine Launen, weshalb ihre Mutter immer dann auflebte wenn er fort war.

Jahre später, 1990 als eine Welle von Aussiedlern, jetzt formulierte man diesen Begriff für sie, hier und anderen Ortes in Deutschland anbrandete, war es als würde der Vater erstarren und zurückgeworfen werden. Die Steppe und Vergangenes leuchteten wieder hell auf in ihm. Das Steppenkind Josef war zwar erwachsen, erinnerte aber plötzlich wieder die Weite. Das Gute, eine Freundschaft aber auch eine alte Schuld. Die schwer auf ihm lastete und die er wieder überdeutlich spürte, als er einer jungen Frau aus Kasachstan im Supermarkt an der Kasse begegnet.

Sabrina Janesch, geboren 1985 in Gifhorn, studierte Kulturjournalismus und Polonistik, war Stadtschreiberin in Danzig, lebt heute in Münster. Ihren Roman “Die goldene Stadt” über den deutschen Entdecker Machu Picchus, August Berns, hatte ich bei Erscheinen 2017 begeistert verschlungen. So bunt, so prächtig, so fesselnd, so unerwartet und lehrreich fand ich ihn. Sprachlich tanzt Janesch auch in Sibir mühelos über jedes Seil, ihre Sätze sind ausbalanciert und sie treffen ihr Ziel wie Pfeile. Machen nachdenklich, berühren oder sind einfach nur schön.

Wir erleben mit Leila auf dem Sofa vor dem Fernseher wie die Berliner Mauer fällt, spüren eine irrationale Angst. Sehen Containersiedlungen am Rand der Heide wachsen, wo Unterkünfte fehlen. Spüren wie Scham und ein Familienname Angst auslösen und die verstört, die schon hier sind.

Kann jemand wieder Deutsch lernen und sprechen, dem man jahrelang eingetrichtert hat, diese Sprache in den Mund zu nehmen könne ihn direkt ins Gulag befördern?

Ein Diebstahl. Ein Beutel mit Zahngold. Ein Bleistift steckt in einer Schläfe.

Heide versus Steppe. Der Blick zurück macht dich kaputt. Mahnt Josefs Großvater und sucht nach seinem Platz im ländlichen Kleinstadtleben.  

Auf zwei Erzählebenen vermischt Sabrina Janesch zwei Kindheiten, die von Leila und die von Josef, ihrem Vater. Ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Ihre Ängste und ihren Horror. Ihre Freude und ihr Erleben.

Dazwischen Leilas Mutter, von polnischer Abstammung, grazil und gekrönt von hennaroten Locken, stets eingehüllt in eine Wolke Chanel No 5, gehört sie gefühlt weniger in das Leben ihres Mannes Josef, der jetzt Ingenieur ist, als viel mehr nach Paris oder New York und doch blieb sie. Hier, mit ihm, am Rand der Lüneburger Heide. Bekam eine Tochter von ihm, schreibt Janesch, aber keine Familie.

Eine andere Mutter geht verloren. Im Schneesturm und entgeht dem Auge und dem Ohr der Steppe, laut der Autorin. Es ist Emma, die Mutter von Josef Ambacher. Sie hinterlässt eine Leerstelle die bleiben wird.

Sprunghaft pendelt Janesch zwischen ihren beiden Erzählsträngen, mir hat das etwas den Fluss gebremst, dem ich gerne beim Lesen folge und es erforderte Konzentration. Ihre schöne Sprache und die Sanftheit ihres Erzählens haben mir vieles ausgeglichen, auch ihre ständigen und beständigen Namenswiederholungen. Fortwährend müssen stets und immer Vor- und Zuname Beteiligter genannt werden. Insgeheim hatte ich mir schneller einen Klick-Moment erhofft. Wollte näher an ihren Figuren sein, nicht nur Janeschs Stil und Sprache mögen, habe es aber nicht geschafft wirklich mit ihrem Personal mitzufühlen. Dabei hat die Dramatik dieser Vertreibungsgeschichte(n) dafür jede Grundlage geliefert.

Das Janesch hingegen ein Kapitel aufblättert, das eher selten bis nie gelesen wird, uns eine Geschichte erzählt, die wir zu kennen glauben und doch kennen wir sie nicht, das sie uns einen Blick hinter die Kulissen der deutschen Nachkriegsgeschichte gewährt und dabei auch das Schicksal der einst nomadisch lebenden Kasachen verhandelt, die man in ein sesshaftes Leben zwang und Stalins Agrarpläne, die dafür sorgten, dass eine Million von ihnen verhungerte, rechne ich ihr hoch an. Ich bin gespannt, welchem Thema sie sich als nächstes annehmen wird. War doch ihre Geschichte über den Entdecker August Berns für mich ebenfalls eine noch Unerzählte und ein echter Augenöffner noch dazu. Versteckte Geschichten auszugraben, die nur das Leben erzählen kann, die uns aber oft genug verloren gehen, scheinen ihre Geheimzutat zu sein.

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