Corona in Italien. Wir erinnern noch die Bilder der Lockdowns aus dem Fernsehen. Die hoffnungsvollen. Die schrecklichen. In dieser Geschichte treffen wir auf einen Chor, bei einer ersten noch zaghaften Probe im Freien. Lesen von Masken. Hatten vergessen. Wie das war. Wie es sich anfühlte. Ausgesperrt zu sein von der Welt. Treffen auf eine Mutter und eine Tochter. Auf ein Dorf. In dem man auch vergessen hatte.
Ein kleiner Ort. Am Fuß eines Berges, der aussieht wie der Zahn eines Wolfes. Vergessen, was hier, unter ihnen, geschehen war, lange vor einer Pandemie, die uns zu trennen verstand und wir ahnen bereits auf den ersten dreißig Seiten, was hier passierte, war etwas nicht minder Einschneidendes. Fürchten uns beinah. Unheilvoll fühlen sich Andeutungen an, die wie Mahnungen zwischen den Zeilen stehen. Mahnungen, nicht daran zu rühren …
Donatella di Pietrantonio, geboren am 5. Januar 1962 in Arsita, einem kleinen Dorf in den Abruzzen, die als als Kinderzahnärztin in Penne/Pescara lebt und arbeitet, veröffentlichte 2011 ihren Debütroman. Für den 2013 Folgenden wurde sie mit dem Premio Brancati ausgezeichnet und erstmals für den Premio Stregga, den wichtigsten italienischen Literaturpreis nominiert. Heute zählt sie zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen Italiens und 2024 gewann sie den Premio Stregga mit >Die zerbrechliche Zeit<. Ihre Geschichte um Arminuta, die Zurückgekommene, aus dem Jahr 2018 haben vielleicht einige von Euch gelesen. Sechs Jahre später, dürfen wir jetzt also neues von ihr lesen. Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse und dem Gastlandauftritt ihres Heimatlandes. Mit ihrem Schreiben wolle sie eintreten für die Frauenrechte, weil diese so hart erkämpften offenbar nicht mehr selbstverständlich seien. Mit dieser Aussage wird sie sinngemäß zitiert und ihr Versprechen dazu hat sie bei der Verleihung des Premio Stregga abgegeben.
Übersetzt hat <Die zerbrechliche Zeit> für den Verlag Antje Kunstmann, bei dem ich mich herzlich für das Besprechungsexemplar bedanke, aus dem Italienischen, Maja Pflug. Die auch bereits ihre vorhergehenden Geschichten ins Deutsche übertragen hat. Ein Vorteil, wenn sich Übersetzende und Autor:innen länger kennen, ich freue mich da regelmäßig, in diesem konkreten Fall ganz besonders, denn Wort- und Satzentsprechungen fühlen sich in meiner Sprache so gut an. Ganz wunderbar transportiert Maja Pflug einen rauen und zugleich zarten Erzählton. Verbindet Gegensätze. Ihre Sätze, besonders die kurzen, nachgestellten, schlagen in mir ein wie Granatsplitter mit Widerhaken. Auch wenn man sie entfernt, das Buch zuschlägt, spürt man sie noch. Was passierte, passiert hier? Am Fuß des Dente del Lupo? Kommt, fasst Mut und begleitet mich dorthin …
“Mailand hat mir eine erloschene Tochter zurückgegeben.”
Die zerbrechliche Zeit von Donatella di Pietrantonio
Sagt die Ich-Erzählerin di Pietrantonios. Amandas Mutter. Amanda verlässt ihr Zimmer nicht. Spricht nicht. Isst kaum etwas.
Amanda ist wieder zurück. Aus Mailand. Wo sie studiert hat. Weil sie aus der Enge ihres Zuhauses hatte weg wollen. Weil jetzt das Land stillstand. Weil … Das sagte sie nicht.
Zurück im Dorf. Am Fuß eines Berges, der über ihnen aufragt wie eine Drohung.
Ein verwildertes Grundstück nebst Campingplatz. Es gehört Amandas Opa und sie, seine Tochter, Amandas Mutter, soll es erben. Er will es jetzt klären und sie will es nicht. Weil … Wie eine düstere Wolke hängt Angedeutetes über ihren Köpfen.
"Von da an würde jeder Augenblick unseres Lebens in ein Vorher und ein Nachher zerfallen, es war nicht einmal nötig, die Tat zu benennen."
Textzitat Donatella di Pietrantonio
Ein Schrei. Ein Fremder. Bei den Tieren von Giarango dem Schäfer. Gelyncht. Das hätten sie ihn am liebsten. Wären die Carabinieri nicht gewesen. Damals.
Die Romantik von einst, wenn es sie denn je gab, Schafe hüten und in Ruhe und Frieden leben war dahin. Sie führen ein Leben in Kargheit, die landwirtschaftlichen Erträge der Unbill des Wetters ausgesetzt. Jahr für Jahr war das ein Glücksspiel, die Schönheit der Natur für die, die hier lebten nur Kulisse. Keiner hatte das Leben in diesem Tal gewählt, sie alle waren Sklaven einer Notwendigkeit und geblieben wo sie geboren waren, schreibt di Pietrantonio und man versteht sofort. Nur von außen betrachtet sah ihre Welt heil aus.
Seit damals sprach man über sie. Sie waren in den Landesnachrichten gewesen. Nach der Nacht als Doralice verschwunden war, als Lucias Vater, mit der Flinte in den Wald gezogen war, um Doralice gemeinsam mit Osvaldo, deren Vater, zu suchen. Wie sie, Amandas Muter und Freundin von Doralice, verhört worden war. Wie ihr Gewissen in ihr anschlug. Warum hatte sie Dora ausgerechnet heute nicht bei sich haben wollen? War allein ans Meer gefahren um neue Freunde zu treffen?
Sie waren jung gewesen. Damals. Anfang zwanzig. Sie und Doralice. Wollten wild sein und frei. Ausbrechen. Ausgehen mit wem sie wollten. Umgang haben mit wem sie wollten. Auch wenn die Männer zehn Jahre älter waren als sie und ihre Väter deswegen auf Krawall.
Was hier geschehen ist wäre im Grunde schnell erzählt. Um das WAS aber geht es nicht. Nicht wirklich. Für mich. Es geht um das WIE diese Autorin erzählt. Sie fesselt und berührt. Ihre Figuren treten sehr deutlich aus ihren Seiten heraus, ihre Hauptfigur und die rebellische, verwundete Seele ihrer Tochter, die soviel mit ihrer Mutter gemeinsam hat, die uns Lesende hier berichtend an die Hand nimmt. Wenn sie doch nur miteinander reden könnten.
Tradition und Ländlichkeit. Lebensentwürfe abseits städtischem Trubel. Die Sprachlosigkeit und das Beschweigen sind es, sie geben dieser Geschichte ihr Gewicht und ihre Tiefe.
Eine Geschichte von Schuld und Scham, von Tätern und Opfern, davon, dass es manchmal keine Gerechtigkeit gibt, weil Strafe kein Maß hat, nicht angemessen sein kann. Eine Geschichte über die Kraft, die es braucht weiter zu machen, über den Mut, zu verzeihen. Sich selbst zu vergeben ist dabei vielleicht Schwerste.
Ein Roman so spannend wie ein Krimi, literarisch eine Perle mit rauen Rändern. Den ich ungemein gerne mochte. Jetzt im Herbst passt ihr Ton besonders gut. Wenn die Nebel ziehen eine Gedankenreise in diese Gegend zu unternehmen, auf den Flügeln dieser Sätze, die so wunderbar melancholisch anschlagen, ist herrlich.
Wie gut, das es die alljährlichen Gastlandauftritte auf der Frankfurter und auch auf der Leipziger Buchmesse gibt. So viele Autor:innen konnte ich so schon entdecken und di Pietrantonio ist neben Gaea Schoeters in diesem Jahr für mich eine sehr willkommene. Eine die ich sehr genau im Auge behalten werde.
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