Demon Copperhead, Matara, Das Herzflorett, Der Stich der Biene. Okay, der letztgenannte Roman ist keine klassische, aber dafür, dass ich eher weniger gerne sogenannte Coming of Age Geschichten lese, ist diese hier in 2024 bereits meine fünfte. Was ist denn da los, frag ich mich? Was haben diese Geschichten gemeinsam? Das mich angezogen und dann vereinnahmt hat?
Eines steht fest: Sie alle stammen aus der Feder begnadeter Erzähler:innen, inhaltlich könnten sie allerdings nicht unterschiedlicher sein. Mal waren es das Erzählkonstrukt oder die Grundstimmung, dann der Erzählton oder die Poetik der Sprache, die mich voll erwischt haben. In zwei Fällen, dieser hier gehört dazu, waren es in diesem Jahr die Held:innen der Romane, die mir ans Herz gewachsen sind.
Zeigte mir zuletzt Pepsi das Licht, lebte ich diesmal mit bangem Herzen und Richard im Abseits. Richard, der mich ein klein wenig an einen Jungen erinnert hat, dem ich vor etwas mehr als einem Jahr im Haus am <Wolfshügel> von Dimitri Rouchon-Borie begegnet bin und den ich bis heute nicht wieder vergessen konnte. Auch an das Mädchen aus Malin C. M. Rønnings <Skabelon> musste ich beim Lesen dieses Romans hier wieder denken. Urd, die oft allein in Wald und Dunkelheit unterwegs, empfindsam und liebenswert, durch die Buchseiten hindurch mein Leseherz gestohlen hat.
Geschichten die Herzen brechen. Mag ich. Fast am liebsten. Die Guten können es ohne Pathos und Kitsch. Sie packen mich am Kragen. Machen mir die Kehle eng. Lassen Tränen zu. Selten sind sie. Oftmals findet man sie nicht, wenn man nach ihnen sucht. Sie finden uns. So ist das. Immer. Auch diesmal. Mit <Abseits> und mir.
Ulrich Rüdenauer hat sie uns geschenkt. Der 1971 in Bad Mergentheim geborene Journalist, Regisseur, Politikwissenschaftler und studierte Germanist legt mit <Abseits> seinen ersten Roman und gleich einen dieser Herzensbrecher vor. Herzlichen Dank an dieser Stelle an den Berenberg Verlag für das Besprechungsexemplar.
Das eher finster wirkende, detailreiche Cover dieses Debüts ziert ein Ausschnitt des bedeutenden Tafelgemäldes der Stuppacher Madonna, von Matthias Grünewald aus dem Jahr 1516, welches in der Pfarrkirche Maria Krönung in Bad Mergentheim/Stuppach zu finden ist und nicht nur einen Bezug zu Rüdenauers Geburtsort, sondern auch eine Verbindung zu der in der Geschichte sehr eindrücklich geschilderten Gottesfurcht herstellt.
Abseits von Ulrich Rüdenauer
Erst streckte ein Fieber den Richard nieder und mit einem Mal waren alle nett zu ihm. Kümmerten sich. Auf einem Feld hatte ihn ein Bauer gefunden. Der Lehrer hatte den Richard nach Hause geschickt. Weil er abwesend gewesen war. Gut hatte er es vielleicht gemeint, aber nicht bedacht, dass der Richard den Weg nicht mehr allein schaffen würde. Der Bauer, der des Weges kam hatte ihn nicht mehr ansprechen können, ihn getragen bis nach Hause. Das für ihn kein Zuhause war. Die Tante hatte nach dem Arzt geschickt und dann war Richard für Tage, vielleicht Wochen, allein geblieben. Im Bett.
Die Zeit hielt den Atem an. Bis zu dem Tag, Richard erholte sich langsam, als ihr Arbeitpferd erst mit Richard und dem kleinen Paul und dann mit dem Onkel durchging. Den Mann, der stark wie ein Ochse war, wie eine Puppe über den Acker schleifte, ihn blutig schlug, die Beine brach. Nichts rührte sich mehr an ihm und Richard gab sich die Schuld. Die Tante tat das auch. Jetzt half nur noch Beten.
Bereits die ersten Sätze von Rüdenauers Text setzten mich als Lesende auf unbequeme Kirchenbänke, derweil ein Pfarrer von der Kanzel auf mich herabwettert. Neben mir der erst acht- oder neunjährige Held dieser Geschichte, eingeschüchtert und ängstlich. Richard, so sein Name, ist kurze Zeit nach Kriegsende auf einem Bauernhof bei Verwandten untergekommen. Mutter und Vater bleiben in der Geschichte abwesend, wir erfahren nicht wirklich warum. Was wir erleben ist, dass dieses Kind hier alles andere als willkommen ist und das man es dies überdeutlich spüren lässt. Mit und durch Wort und Tat. Satt werden hier immer nur die anderen. Die Cousins und Cousinen. Er nicht. Arbeiten muss er. Anpacken. Auch aus der Schule holen sie ihn dafür.
Vielleicht bleibt Richard wegen des Hungers der Kleinste unter ihnen, packt Steine in seinen Ranzen für den besseren Halt und damit ihn die anderen Buben nicht so leicht umstoßen können. Steine, die er schön findet, weil sie das waren. Glatt und angenehm in der Hand. Wie er alles in der Natur gern mochte. Die Vögel im Wald konnte er allesamt am Gesang erkennen. Am liebsten war er allein da draußen, saß unter einem verwachsenen Apfelbaum mit seiner Fibel.
Ein wacher Blick, eine unbändige Neugier auf alles was wächst, kriecht oder flattert. Richard sieht das Leuchten in den Dingen, die kleinen Wunder, liebt die Buchstaben, ohne zu wissen warum. Anfangs stolpert er noch über sie, dann spürt er ihnen einfach nach und fühlt.
Dem Lehrer gefällt das. Auch das er im Lesen der Beste wird. Die anderen Buben, auch die “falschen” Geschwister heißen ihn Streber. Was das bedeutet wissen wir alle. Er steht am Rand und da bleibt er auch. Fühlt sich nicht zugehörig. Wie im Fußball, im Abseits.
Das alles beschreibt der, zu dem er fraglos gehören muss wie ein Schatten, sein Autor, ganz und gar wunderbar. Er zeichnet ihn als verwundbar und ernsthaft, mit einer Sprache die Kraft hat und die klar ist wie ein Gebirgsbach. Er stellt ihm einen Großvater an die Seite, der ihm Bezugsperson und Herzensmensch ist, Held und Halt. Denn der Opa kennt alles in Wald und Flur. So gerne bliebe er bei ihm. Ihn imaginiert er, wenn er es nicht mehr aushalten kann. Die kalte Schulter der Tante, das Schimpfen des Onkels, die Schläge des Pfarrers. Den Hunger, den Spott.
Das Schweigen. Denn geschwiegen wird nachhaltig. Beschwiegen wird warum Richard hier ist. Rüdenauer streut Krumen für uns Lesende und für ihn, wer sind seine Eltern und wo. Wir puzzeln uns diese Hinweise zu einem Bild, das der Junge sich in seinem Alter so nicht zusammenreimen kann. Man will auf dieser Fährte bleiben und in diesem Text. Der seine Ecken und Kanten aus der Bitternis und Kargheit dieses Lebens in den 1950ziger Jahren dieser bäuerlichen Gemeinschaft zieht, die einem Wertekodex folgt, der von einem Glauben an einen auch strafenden Gott genährt wird. Die Spuren des Krieges sind noch lange nicht verweht, man ist aufeinander angewiesen und hält zusammen. Das ist besonders erlebbar als Richards Onkel schwer verunfallt.
Das Aufblitzen von Glücksmomenten, die aus der Kleinheit ihre Schönheit ziehen, erhellt die Geschichte immer wieder. Da sind die Besuche von Richard im Dorfladen, der Besitzer, der ihn offenbar mag und gerne in die Lehre nehmen will. Eine Nachbarin, die ihm Schokolade zusteckt, die er sich aufspart, der Genuß des Momentes, wenn sie ihm im Mund zergeht.
Erwartet eine Geschichte die ruhig erzählt ist, ausbalanciert und die kein Wort zuviel hat. Eine Geschichte, die rund ein Jahr bei einem Kind bleibt, das in einer Gegend aufwächst, die vom Wirtschaftswunder noch ein gutes Stück entfernt ist. Erzählt von einem Erzähler, der dem kleinen Helden wohl sehr nahe gekommen sein muss. Auch er bleibt im Schatten, eine der Leerstellen in Richards Geschichte. By the way, war das ein Kniff den ich sehr genial fand. Rüdenauer umgeht damit das Problem in einer kindlichen Ausdrucksweise erzählen zu müssen. Kann sich so eine Sprache für seinen Text erlauben, der so ist wie er ist, klug komponiert, eine Grundspannung haltend, die einen vorwärts treibt, eine Sprache, die die inhaltliche Kälte umarmt und in der man gerne länger bleiben will.
Eine Geschichte, erzählt von einem Autor, der uns hoffentlich noch an weiteren Romanen aus seiner Feder teilhaben lassen wird. Das würde ich mir wünschen.
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