Geordnete Verhältnisse (Lana Lux)

Das statistische Bundesamt gab nach Erhebung des Mikrozensus zur Haushaltsgröße im Juni 2023 bekannt, dass 41% der rund 40,9 Millionen Haushalte der Bundesrepublik von einer Einzelperson bewirtschaftet werden. Demnach leben rund 20% der Bundesbürger:innen allein, gegenüber dem Jahr 1950, da waren es 6%. Wer nach einem Partner sucht, der Liebe fürs Leben, danach verstanden und angenommen zu werden, der entscheidet sich, wenn er sie denn findet heute wohl nicht immer gleichzeitig auch für ein Zusammenleben. Für ein Leben in wie man landläufig sagt, “geordneten Verhältnissen”, so wie in den Nachkriegsjahren, wo die klassische Großfamilie, mit um die fünf Personen, noch als Musterfamilie galt.

Geordnete Verhältnisse von Lana Lux

Pumucklrothaarig, übersät mit Sommersprossen, schwarz gekleidet und chronisch wütend. Das ist Philipp. Schon seit dem Kindergarten ließ er die Fäuste sprechen um sich gegen Hänseleien zu wehren. Davon gab es nicht wenige. Mit ihnen ist er aufgewachsen und mit den Strafen. Die unweigerlich auf seine Anfälle folgten.

“Rote Haare, Sommersprossen, sind des Teufels Volksgenossen”. Sagt Tante Martha und hält ihn schlicht für böse. Seine Mutter hatte ihn bei ihr abgegeben, abgeben müssen, in die geordneten Verhältnisse ihrer Schwester. Weil seine Mama trank, dann Ausraster hatte und Auszeiten brauchte um zu sich zu kommen. Wenn sie trocken war, durfte er zurück. So spielten sie Ping Pong mit ihm.

Faina stammte aus der Ukraine, ihr Deutsch war holprig und ihre langen lockigen Haare leuchtend rot, genauso wie ihre Wimpern, als sie ankam. Wenn Philipp in ihr Gesicht sah, erkannte er sich wieder. Endlich war er nicht mehr das einzige rothaarige Kind an der Schule. Die beiden, elf Jahre alt, fanden sich, ohne sich zu suchen, wuchsen miteinander auf im Ruhrgebiet, in den 1990ziger Jahren, blieben zusammen.

Seelenverwandt. Das denkt er, dass er das mit Faina ist. Bis 2009, zwei Jahre nach dem Abi. Da geht sie nach einem Streit. Weil ihm war, nach eigener Aussage, aus Versehen die Hand ausgerutscht.

Faina geht und Philipp bleibt. Bleibt der Sonderling, der er immer schon war,  der sich einnässt wenn er in Streß gerät, dessen Wut immer wieder aufflammt, manchmal auch ohne Grund. Ein Mann dem Berührungen, Intimität und Menschenansammlungen ein Graus sind. 

Philipp ist auch der Erste, der icherzählend in Lana Lux’ Erzählreigen an der Reihe ist. Dran ist, sich zu erinnern und von sich zu berichten. Dann folgt Faina. Bevor sich beide abwechseln. Sie setzt auf, ein paar Jahre nachdem sie Philipp verlassen hat. Wir erfahren, dass ihr Vater sie rausgeschmissen hat als sie sich entschied eine Ausbildung als Masseurin zu machen. Was er für hurenhaft hielt. Damals war sie bei Philipp und seiner Mutter untergekommen. Raus aus ihrer dysfunktionalen Familie, rein in seine. Ihren dauerzornigen und aufbrausenden Vater gegen seine alkoholsüchtige Mutter tauschend. Die dann früh verstarb. Philipps Mutter und ihm ein Erbe hinterlässt, das er geschickt an der Börse einsetzt und vermehrt.

Faina plaudert munter drauf los, frei von der Leber weg und wir hören, das sie unfreiwillig schwanger wurde, während eines Projektaufenthaltes in Israel, der irgendwie eskaliert ist, das sie ihr Studium abgebrochen hat, von ihrer Freundin aus deren Berliner Wohnung rausgeworfen worden ist. Ihr da Vater gerät da noch mehr außer sich als eigentlich geht, auch Zuhause kann sie nicht bleiben und wo landet sie? Genau, vor Philipps Haustür. Der macht nicht nur auf, sondern nimmt sie auf. Kauft kurz danach ein Haus in Berlin. Weil sie da wieder hin will, beide starten ein Projekt, das sie ganz modern “Co-Parenting” nennen und sammeln dafür Wows ein. Überhaupt scheint alles was nicht normal ist,  “Wow” zu sein hier in Berlin. Wo sich Philipp nicht wohl fühlt. Sie schon.

Auf mich wirkten die von Lana Lux geschilderten Szenen und Ereignisse, das Lebensgefühl zweier Mitzwanziger, authentisch aber ihr Roman verhandelt so viele Themen, dass er mir etwas zu überfrachtet war. Welches ist ihr das Wichtigste? 

Ihr Erzählen erstreckt sich vom Ruhrgebiet über Berlin nach Israel. Altersheim, Partys und Drogen. Sie thematisiert die sexuelle Freiheit, Alkoholsucht, Depressionen, Inkontinenz, Migrations- und Beziehungsprobleme. Gewalt in der Familie, väterliche, männliche Herrschsucht und Dominanz. Antisemitismus, Jüdischsein (ohne Religiosität oder doch mit?). Eine ungewollte Schwangerschaft, Vater unbekannt oder doch bekannt aber nicht gewollt? Frauenfeindlichkeit, Eifersucht, Übergriffigkeit. Eine bipolare Störung, ein offensichtliches Aggressionsproblem. Die Suche nach Halt und Sicherheit, der Wunsch danach gesehen und geliebt zu werden. So wie man ist. Da steht jemand innerlich in Flammen.

Wo hört psychische Gewalt auf und fängt körperliche an. Bei einer Ohrfeige? Wer bin ich und wer will ich sein? 

Das alles habe ich verstanden, in diesem “much too much” für mich. Könnte sein, dass es so ein Zielgruppen Ding ist, das ich mir mit der Fülle der Themen und diesem jungen Paar schwer tue. Das würde für mich auch erklären, warum die Besprechungen zu diesem Roman so auseinander driften. Es gibt da einerseits die Hyperbegeisterten und andererseits die Ratlosachselzuckenden. Ich mache mal eine dritte Gruppe auf, die der Hinundhergerissenen.

Lana Lux, geboren am 22. November in Dnipropetrowsk, Ukraine, Autorin, Illustratorin und Schauspielerin, kam 1996 als jüdischer Kontingentflüchtling mit den Eltern nach Gelsenkirchen. Hier ging sie zur Schule, machte Abitur, um zunächst Ökothrophologie zu studieren. Danach machte sie eine Schauspielausbildung in Berlin, wo sie auch heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt. Unter ihrem Künstlernamen Lux, veröffentlichte sie 2017 ihren Debütroman Kukolka. 2020 folgte Jägerin und Sammlerin und 2024 Geordnete Verhältnisse. Letztere ist eine Geschichte von Wut, Gewalt, von einer Beziehungstat. Ihren Ton habe ich als modern und bisweilen auch ein wenig schnodderig empfunden. Das passt, wenn Philipp oder Faina erzählen, es passt zu ihnen.

Was mir nicht gefallen hat an diesen “geordneten Verhältnissen”, habe ich bereits erwähnt, was aber habe ich gemocht? Was löste dieses innere Hin und Her bei mir aus?

Zum Einen ist es die Dynamik, die durch die wechselnden Perspektiven und Erzählebenen entsteht, mittels derer und durch die Lux ihre Geschichte erzählt. Sie versteht es fraglos auf die Spitze zu treiben, zuzuspitzen, tragisch konsequent und ohne das ganz große Drama.

Am Ende aber war es die Spannung, die sich hinter Lux zwanglos plauderndem, unverkrampft daher kommendem Erzählen aufbaut, die mich am Text gehalten hat. Als Lesende will man weiter durch die Seiten voran. Das sie mich emotional so rumschleudert und auf Trapp hält, ist ebenfalls clever gemacht. Ob ich noch einen weiteren Roman von ihr lesen würde, höre ich Euch fragen. I don’t know. Das hängt wohl davon ab, denke ich, ob er mich thematisch anspricht. Stilistisch spricht nichts gegen ein Wiederlesen.

In der Hörbuchfassung des Romans tritt Lana Lux vorlesend selbst zusammen mit Oliver Dupont und Sebastian Dunkelberg auf. Mit verteilten Rollen geben Sie den Figuren ihrer Geschichte stimmlich Kontur. Wer lieber hören möchte, kann also auch das tun. Die Lesung selbst habe ich als stimmig und lebensecht empfunden.

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