Sein Leben gehörte dem Eis, dem ewigen Eis. An dem er gleich mehrfach grandios scheiterte, insgesamt viermal brach er in die Antarktis auf, unter anderem 1914 mit der Endurance, die sich drei Jahre später das Packeis des Weddellmeers holen und zerdrücken sollte. Wie durch ein Wunder gelang es Ernest Shackleton seine Besatzung zu retten, auch wenn er seine Mission, die Antarktis über den Südpol hinweg zu durchqueren, verloren geben musste. Ruhm erlangte er trotzdem, genau weil es ihm gelang alle 27 Männer nach 635 Tagen des Vermisstseins am Rand der Welt zurück in die Zivilisation zu führen, allerdings leider, und nur um viele von ihnen wenig danach an den Ersten Weltkrieg zu verlieren.
Und noch ein Mann machte bei der Endurance-Unternehmung von sich reden.
Perce Blackborow, geboren in Newport war ein walisischer Seemann. Er gelangte als blinder Passagier, da war er 17 Jahre alt, in Buenos Aires an Bord von Sir Shackletons Endurance. Nach drei Tagen auf See, als eine Umkehr nicht mehr möglich war, entdeckte man ihn. Er verdingte sich fortan als Stewart und erwarb sich so den Respekt von Kapitän und Mannschaft.
In diesem Roman ist Merce Blackboro, wie ihn der Autor nennt, und der ihn schon einmal in einem Roman auf ein Schiff ins ewige Eis geschickt hat, erwachsen geworden und diejenigen, die aus Der eiskalte Himmel kennen, begegnen ihm hier wieder …
Seeland Schneeland von Mirko Bonné
Newport 1921. Merce Blackboro stand am Abgrund, an seinem inneren und an einem äußeren, blickte auf ein Land, seine Heimat, das der Regen seit Wochen zu ertränken versuchte und kämpfte mit um das Überleben der Traditionstischlerei seines Vaters und Großvaters. So viele Familien hatten sich die Pleite schon eingestehen müssen. Zu viele Söhne, zumindest diejenigen, die die Spanische Grippe verschont hatte, hatten die Unternehmen ihre Väter schon abgewickelt.
Er war zurück, zurück aus dem Eis und er lebte. Er war gesund, soweit, zumindest körperlich, auch wenn ihn tagsüber häufig eine Traurigkeit überfiel, wegen der er sich hinlegen musste. Regelrecht liebeskrank war er auch. Glaubte man seiner Schwester Regyn. Bewusst wird es allen in seiner Familie, als Ennid, die Frau um die in ihm alles zu kreisen scheint, klammheimlich auf ein Schiff gen Amerika steigt und sich damit endgültig seinem Zugriff, seiner Zugewandtheit entzieht.
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, deutscher Schriftsteller und Übersetzer lebt und arbeitet heute in Hamburg. Er wurde für sein Wirken mit Preisen ausgezeichnet, und unter anderem für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der eiskalte Himmel, sein Roman über Sir Ernest Shackletons Antarktis Expedition im Jahr 1914, mit seinem damals 17-jährigen blinden Passagier namens Merce Blackboro, ist der dritte Roman aus seiner Feder, und wurde 2006 veröffentlicht. In Seeland Schneeland, der für den Alfred Döblin Preis nominiert und der am 01.02.2021 erschienen ist, knüpft er, nach Blackboros Heimkehr, an dessen Geschichte an.
Zu erleben wie sich Merce der innere Horizont verdunkelt, wie ihm der Weitblick verloren geht, wie seine Zuversicht schwindet, wie es ihm an Gewissheiten zu fehlen beginnt, die immer als gesetzt galten, Bonné empathische Schilderungen ließen mich mit ihm fühlen. Emotional und ausgesprochen stimmungsvoll beschreibt Bonné das Leben und Erleben von Merce und Ennid. Ein Hauch von Schicksal liegt über den Seiten.
Ein superreicher Hotelier aus Amerika auf Einkaufstour in der alten Welt. Die nach dem Krieg in Trümmern liegt. Versoffen ist er, introvertiert, cholerisch, seltsam wehmütig aber auch, seinen vordergründigen Großmut empfinde ich als Überheblichkeit. Nicht nur einmal, hätte ich ihn am liebsten geohrfeigt, diesen Snob. Was treibt ihn an, was hat er vor?
Zwei Erzählebenen gestaltet Bonné, mich aber hält die Grundstimmung seines Romans von der ersten Seite an gefangen und berührt mich. Die Atmosphäre die Bonne zeichnet hat mich beeindruckt! Was er mit Worten erreicht, vermögen andere nur mit Pinsel und Farbe zu erschaffen. Dabei ist es gleich um welches Thema es geht, alle gelingen ihm wie ein Gemälde, mal in strahlenden, mal in gedeckten Farben. Nicht abstrakt, viele Details kann man erkennen, seine Figuren haben Tiefe und eine Nahbarkeit, die sie beinahe aus den Seiten heraustreten lässt.
So wie die Hoffnung die stärkste Kraft ist die uns antreibt, treibt sie im Roman Ennid in eine ungewisse Zukunft und ich folge ihr, in einen Schneesturm, in gespannter Erwartung.
Mit Merce teile ich die Sehnsucht. Wann wird er im Leben wieder ankommen dürfen? Oder hat das Eis tatsächlich das Stück von ihm behalten, das ihn lebensfähig macht? Hat die Antarktis die Nadel seines inneren Kompasses einfrieren lassen, vermag er nicht mehr zu erkennen was wichtig ist?
In dieser Geschichte, die in Moll komponiert ist, an der man sich satt schmökern kann. Die sich Zeit lässt, die einen langsamen Erzählfluss hat, die wie ein Gewässer ist, das vom Rand her langsam zufriert. Eine Geschichte, die einmal mehr beweist, das Geld alleine nicht glücklich macht, das es Grau nicht nur in einer Schattierung gibt, das es immer Licht gibt, dort wo Schatten ist und das dieser Silberstreif auf die Mutigen wartet. Auf die, die ihr Leben an die Hand nehmen und sagen: Komm, ich hab noch was vor mit dir …
“Wenn es ein Meer war, dieses Leben – unergründlich, unbeherrschbar, das Reich der Kraken, Seeleoparden und Haie, das gefräßig Schiffe und Küsten verschlang, wie es sich auch selbst verschlang und dabei doch das blieb, was es seit Urzeiten war, der Hort allen Werdens und Vergehens – , dann konnte er in diesem Albtraumatlantik nur ein hundemüder Schwimmer sein.”
Textzitat Mirko Bonné Seeland Schneeland
Ein Meister der philosophischen Bandwurmsätze, ein Satzgipfelstürmer ist Mirko Bonné für mich. In lyrisch anmutenden Satzpassagen ließ er mich schwelgen, auch wenn die See rau war, der Wind eiskalt und die Aussichten trübe. Die Hoffnung hat mich beflügelt, die Vernunft Lügen gestraft. Folge Deinem Herzen hat sie gesagt und dann stand ich da, am Ufer eines neuen Lebens. Mit all meiner Furcht und mit all meiner Zuversicht.
Wetter und Schauplätze sorgen hier nicht nur für die richtige Stimmung, sondern werden als Darsteller mit eingebunden. Ausgesprochen szenisch und bildhaft wirken sie auf mich, auf das Leben an Bord nehmen sie Einfluss.
Ich habe in diesem Roman etwas gefunden was ich nicht erwartet hatte, überrascht, ja regelrecht überrumpelt hat mich Bonnés Sprache. Er formuliert derart poetisch, dass ich seinen Roman über und über mit Post it’s versehen habe. Weil ich diese Sätze noch einmal lesen wollte, weil sie auch für sich alleine stehen können, weil sie mich berührt haben, weil sie zart sind und leicht wie eine Feder.
Inhaltlich hatte ich mich tatsächlich auf ein mehr an Abenteuer eingestellt, und trotz seiner ausgefeilten Sprache, seiner sehr griffigen Figurenzeichnung, die ihm bis in die Nebenrollen mit beeindruckendem Detailreichtum gelungen ist, war mir der Handlungsstrang als solches dann etwas zu dünn und zu sehr drängte sich für mich der Liebesschmerz von Merce & Co. in den Vordergrund.
Gemocht hingegen habe ich die Flüchtigkeit der Begegnungen, die den Handelnden wie ein Stoß mit einem Billardqueue eine neue Lebensrichtung geben.
Gerne stand ich auch zwischen den Zeitungsjungen die hier noch die Schlagzeilen ausrufen, habe mir den Hals verdreht und einem Zeppelin am Himmel nachgeschaut. Und dann diese improvisierten Maskenbälle in der ersten und zweiten Klasse dieses Dampfers, sie sind dekadent, lebensfroh, trunksüchtig und respektlos. Nichts könnte trauriger sein, als ich an den Luxus zu gewöhnen, meint nicht nur Charlie Chaplin. In den unteren Klassen teilt man sich Kojen und hofft auf ein Stück Speck in der dargebotenen Kartoffelsuppe …
In aller Ausführlichkeit begleitet Bonné seine zerrissenen, suchenden Helden und Heldinnen auf ihrer Reise, während Schneeflocken so groß wie Handteller über Wellentälern zu tanzen beginnen und sich zu einem dichten Schneetreiben vereinen.
Lebensgefährliche Windstärken, die Orion, vormals Seeland gerät in Seenot, treibt im Kreis um ihre Ankerkette, irgendwo in britischen Gewässern und ich höre eine Stimme, eine Kinderstimme, die der Wind über das Meer trägt, und die in den Gedanken eines anderen widerhallt.
Es gibt sie diese Verbindungen, zwischen zwei Menschen, die durch Raum und Zeit voneinander getrennt sind und die dennoch spüren, das mit dem anderen gerade etwas geschieht, Neurologen haben sie bewiesen. Bonné bedient sich dieses Kniffs und irritiert mich damit. Zunächst. Dann beginne ich zu verstehen …
“Das Meer kannte keine Diplomatie. Unter seinem Wind her stürmte es an Bord und erschlug mit kalten Ketten jeden, der ihm im Weg war.”
Zitat Mirko Bonné Seeland Schneeland
Mein Dank geht an den Schöffling Verlag für dieses Besprechungsexemplar und nach einem Klick auf das Cover findet Ihr mehr Informationen dazu.
Liebe Julia, es kann nicht immer passen und das Du zur Zeit eine Geschichte schneller zur Seite legst kann ich gut nachvollziehen. Achte auch Du gut auf Dich. LG von Petra
Liebe Petra,
mich konnte das Buch nicht ganz mitreißen. Vielleicht der falsche Zeitpunkt. Ich gebe gerade eher schneller auf. Vielleicht ist das auch der Situation geschuldet. Die Energie und der Biss fehlt … bleib gesund. Julia
Liebe Julia,
ich bin gespannt wie Du den Roman abschließend bewerten wirst. LG von Petra
Hallo Petra,
bin gerade dabei und überrascht,dass dies etwas ganz anderes als “Der eiskalte Himmel” ist. Aber Du hast das ja auch erwähnt. Ich weiß noch nicht, ob es mir gefallen wird. Sprachlich ist dieses Buch doch sehr viel intensiver, reichhaltiger, allerdings bin ich noch nicht mal auf S. 100. Anfangs fand ich es zu sehr hin und her und wirrig. Jetzt beginnt die Geschichte “Ordnung” aufzubauen und ich komme besser mit. Abwarten.