Mit ihm habe ich schon die Zeit angehalten. Habe als Außerirdischer die Erde besucht und dabei ganz neue Einblicke gewonnen. Eine vegetarisch lebende Vampirfamilie hat er mir vorgestellt, mir Weihnachtsgeschichten erzählt und er hat mir ziemlich gute Gründe zu leben geliefert. Nur wenige Autoren gibt es, da schaue ich gar nicht hin was sie sich ausgedacht haben. Ich warte nur ungeduldig, ob und wann es wohl wieder etwas Neues geben wird. Er gehört dazu. Seit einigen Jahren schon und auch diesmal habe ich mir in vollstem Vertrauen die Katze im Sack angelacht …
“Du wirst niemals leben, wenn Du nach dem Sinn des Lebens suchst.”
Zitat Albert Camus
Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig
Wem die Stunde schlägt, dem bleibt nur die Rückschau?
Nora Seed beschließt zu sterben. Talent und die besten Aussichten öffnen eben nicht automatisch die Türen zu einem erfüllten Leben. Glück haben muss man schon auch. Wenn man aber gar nicht weiß was das ist, ein Glücksgefühl, gibt man sie auf die Suche danach. Bleibt hängen, so wie Nora, in einem Job der keiner ist, flieht aus einer Beziehung die keine war. Zwei Tage vor der Hochzeit. Kriegt Panik und dann Stress mit denen die man/sie zurücklässt.
Es geht auf Mitternacht als sie eine Flasche Wein und einige Antidepressiva intus entscheidet den nächsten Tag nicht mehr erleben zu wollen, und Haig lässt sie gehen. Durch einen Nebel und in eine Bibliothek eintreten, wo sich für sie Türen öffnen, nicht schließen. Die Idee die er ihr/uns dann präsentiert ist so verrückt wie genial. An diesem Ort, in dieser Bibliothek um Mitternacht, befindet sich Nora zwischen Leben und Tod. Mit Hilfe eines jeden Buches das hier aufschlägt, kann sie auf ein Leben schauen, dass sie selbst hätte haben können, wenn sie denn anders abgebogen wäre. Oder an an der richtigen Stelle. Wenn sie sich anders, richtig (?) entschieden hätte und wenn sie mag, kann sie bleiben, in eben diesem Leben.
Aber was macht ein gutes Leben aus? Was braucht es, damit man mit ihm, in ihm zufrieden ist?
Matt Haig, geboren 1975 in Sheffield, seine Geschichten wurden in über dreißig Sprachen übersetzt, hat in “Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben” berührend über sich und seine Angststörung geschrieben und wer wie ich seinen Roman “Ich und die Menschen” danach liest, versteht diesen umso besser. Mein Herz hatte er im Sturm erobert, mit seinem sensiblen Außerirdischen, den er in die Haut eines Mathematik Professors schlüpfen lässt. Deshalb entscheide ich mich mittlerweile blind für seine Romane, liebe seinen leisen Humor und seine Melancholie. Das Gefühl, das er stets zu vermitteln versteht, die Grundstimmung, sein Ideenreichtum und die Fragen die er aufwirft, sind es, die mich fasziniert in jede seiner Geschichten locken. Er kann über Angst und Depression schreiben, ohne das es deprimierend ist. Immer sieht man das Licht. Warmherzig ist er und bleibt seinen Figuren stets zugewandt.
Diese magische Bibliothek, diese Stille und die Einkehr die sie ermöglicht, ist faszinierend und wenn einer an die heilende Wirkung von Büchern glaubt, dann bin ich das, weswegen ich Matt Haigs Alternative, die er seiner Hauptfigur hier bietet, auch so logisch wie konsequent finde.
Wem von uns war das, was sein Leben von ihm fordert nicht auch schon einmal ein Zuviel? Besonders dann, wenn es Unentscheidbares zu entscheiden gilt. Wäre da nicht eine solche Einrichtung eine unfassbar unglaubliche Entscheidungshilfe?
Märchenhaft und wie in einen Traum schickt Haig seine Heldin Nora. In Träume aus Fleisch und Blut, aus Tinte, Papier und Seiten, aus Licht und Schatten. Um Mitternacht. Man reibt sich die Augen und ist ganz Ohr. Was wird sie tun? Auf wen wird sie hören? Vielleicht am Ende gar auf sich selbst?
Ein Buch wie ein Portal, das einen eintreten lässt und Möglichkeiten eröffnet. Einen Fehler den man einmal gemacht hat, kann man nicht ungeschehen machen. Wenn dieser Fehler, der für alles weitere, was einem danach schief gegangen ist verantwortlich zeichnet, wie wäre es, wenn man bevor man ihn begeht in sein Leben neu einsteigen könnte. Macht man den gleichen Fehler zweimal, oder einen anderen ähnlich?
Philosophische Fragen aufwerfen kann Matt Haig, auch solche auf die er mir die Antwort schuldig bleibt. Er lässt mich schön Grübeln. Auch in diesem Fall. Dafür verehre ich ihn. Vorbehaltlos.
Reue immer wieder Reue. Reue ohne Ende. Ist es das, was uns im Weg steht? Dass, was uns nicht abschließen lässt, weil wir unversöhnt sind, mit uns, mit anderen, mit Entscheidungen, mit unserem Tun und Lassen?
Enttäuschung, das nächste Gefühlsloch, die nächste Falle. Alles immer richtig machen geht nicht, und sich selbst lieben, sich selbst verzeihen können, ist vielleicht das Schwierigste überhaupt. Wenn man denn überhaupt weiß wie das geht.
Man nimmt sich selbst immer mit. Diese Weisheit ist nicht neu, in einem anderen Leben aufwachen und eine andere sein. Geht das?
Bei Nora klärt sich der Blick. Wie viel traut man sich? Was traut man sich zu?
Ein Transfer zwischen Multiversen, Haig unternimmt mit uns Ausflüge in die Quantenphysik. Was unglaublich klingt, ist denkbar?
Kurios, bisweilen gar surreal ist wie gewohnt der Stil von Matt Haig und das WIE er sich diesen Gedankengängen annimmst. Wer Lust darauf hat, auf ein solches Gedankenexperiment, wer sich einlassen kann auf eine Idee, die auf den ersten Blick abwegig erscheint und dann auf Schleichwegen zu einer Erkenntnis führt, die wir lieber ignorieren wollen, das obwohl sie auf der Hand liegt, dem wünsche ich eine gute Reise. Auch wenn dies vielleicht nicht der stärkste Roman von Matt Haig ist, und ich denen die ihn kennenlernen wollen wieder einmal Ich und die Menschen ans Herz legen würde.
Eine Reise, die man im Deutschen, übersetzt hat Sabine Hübner, kurzweilig und unterhaltsam, in der autorisierten Lesefassung, rund sechs Stunden lang, mit ihr unternehmen kann:
Annette Frier, geboren 22. Januar 1974, in Köln, herzlichen Glückwunsch nachträglich! Die deutsche Schauspielerin und Komikerin wurde mehrfach preisausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Deutschen Comedy Preis und auch 2020 auch mit dem Deutschen Lesepreis, den die Stiftung Lesen vergibt.
Zuerst habe ich Christoph Maria Herbst vermisst, auch weil ich auf ihn, was Haig angeht konditioniert bin, weil er der die Geschichten von Haig in eine Höhe zu heben versteht, vor der ich mich nur verneigen kann. Eine weibliche Heldin erfordert eine weibliche Hörbuchsprecherin, das habe ich verstanden und es zähneknirschend akzeptiert. Zunächst. Dann hat mich dieser leicht süffisante, schon auch freche Ton, den Frier anschlägt aber ganz schnell abgeholt. Neben Verzweiflung, Verzagtheit und Nachdenklichkeit versteht sie es auch stimmlich einen Unglauben und eine Empörung zu transportieren, die Haigs Text mehr als nur gerecht wird. Sie nimmt mich stimmlich bei der Hand und führt mich durch diese vielen Leben und wenn das mal keine Message ist:
“Alle guten Dinge sind wild und frei.”
Zitat Henry David Thoreau
Mein Dank geht an das Team des Argon Verlages für dieses Besprechungsexemplar.
Liebe Mikka, viel Freude Dir, gleich ob Du Dich für das Lesen oder das Hören entscheiden wirst. LG von Petra
Hallo,
das Buch steht schon auf meiner Wunschliste, und dieses Rezension bestärkt mich daran, es noch lesen (oder vielleicht als Hörbuch hören) zu wollen! 🙂
LG,
Mikka