Der Wind weht einen dünnen Vorhang aus dem Fenster, ich erhasche im Vorbeifahren einen Blick auf ihn. Freya Ridings singt von einem Gesicht in der Menge, die Sonne zeichnet Wolkenschatten auf ein Feld die sich huschend von mir weg bewegen, die ersten trockenen Blätter dieses Herbstes queren die Straße. Auf dem Weg zum Dienst, spüre ich durch die Windschutzscheibe die Kraft, die die Sonne noch immer hat.
Meine Gedanken wandern zu der Geschichte von Brigitte Giraud, die damit 2022 den Prix Goncourt gewonnen hat. Alles könnte gut sein. Alles könnte sein wie immer. Bis der Bruchteil einer Sekunde im Straßenverkehr alles ändert.
Schnell leben von Brigitte Giraud
Sie reden von einem Unfall. Mit dem Motorrad. Jemand sagt ganz sicher, es täte ihm leid. Sie hört es nicht. Ihr Bruder hat den Anruf entgegengenommen. Es ist ernst hört sie. Man habe nichts mehr tun können, sagt eine Ärztin. Für ihren Mann und von einem Augenblick zum anderen ist nichts mehr wie es war.
Schutzräume gegen die Angst, Unkraut jäten gegen die Trauer. Sie war jetzt eine Witwe und genau das wollte sie nicht sein. Noch vor der Unterzeichnung des Kaufvertrages für dieses, in einem Landschaftsschutzgebiet am Stadtrand liegende Haus und noch vor ihrem Umzug dorthin, musste sie ihren Mann begraben.
Sie würde allein sein mit der Aufgabe des Wändeeinreißens, allein mit ihrem Sohn und so vieles mehr. Wieder zur Besinnung kommen, das musste sie. Jetzt.
Brigitte Giraud, geboren 1960 in Sidi bel Abbès, Algerien, erhielt 2022 den Prix Goncourt für ihr autobiographisches Erzählen. Wir starten in die Geschichte lange nach dem Kauf des Hauses, zu dessen Verkauf sich die Autorin jetzt schweren Herzens entschieden hat, mit dem Gefühl, dass die letzte Bindung zu dem Menschen, den sie als Gefährten erlebt hat, damit endgültig gekappt sein würde.
Mit Brigitte mitzufühlen ist leicht, sie macht es einem leicht, durch die Worte die sie wählt und findet. Wir erleben ihre Wut auf das, was wir Schicksal nennen, ihr Vermissen, ihr Streben danach sich zusammenzureißen. Für ihren Sohn. Erleben, wie sie das Wir aus ihrem Sprachgebrauch streicht und durch ein Ich ersetzt, ihre Furcht vor der Einsamkeit, von alldem erzählt sie uns ohne jegliche Rührseligkeit und wie ich finde trotz aller Zweifel und allen Haderns ohne Bitterkeit.
Hoffnung, sie ist die Triebfeder von allem und auch in dieser Geschichte ist sie gegenwärtig. Viele Wenns stellen sich Brigitte in den Weg beim Versuch zu verstehen. Die Ursache des Unfalls konnte nie geklärt werden. Sie verliert zeitweilig den Horizont aus dem Blick, dreht sich hundertmal um, wird, wie sie sagt, zur Spezialistin für Ursache und Wirkung.
Brigitte Girauds Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Trauer, ihr ehrlich wirkendes, immer auch hoffnungsvolles Schreiben habe ich sehr gemocht. Wie sie lange nach ihrem Verlust den Mut findet, sich auch den Fragen nach dem Was-wäre-gewesen-wenn stellt.
Live fast – die hard. Dieses Zitat findet sie in einem Buch, dass am Bett nach seinem Tod liegengeblieben ist, als würde er es gleich wieder aufschlagen wollen. All diese grausamen Kleinigkeiten, denen es sich zu stellen gilt.
Melanie Straub, geboren 1976, deutsche Schauspielerin, liest und findet die perfekte Balance zwischen zorniger und trauriger Interpretation dieses Textes, der sehr stimmig von Michael Kleeberg ins Deutsche übersetzt wurde. In der ARD Audiothek ist noch bis zum 18. November 2023 die Hörbuchfassung von hr2-Kultur und speak low online und kann dort kostenfrei gestreamt werden. Straub ist in dieser Lesung die Stimme von Brigitte und ich habe ihr jedes Wort geglaubt. Tatsächlich denke ich, dass es besonders wirkungsvoll ist sich diesen Text vorlesen zu lassen. Wunderbar empathisch spürt Straub allen Wenn-Fragen nach, wirkt ungemein authentisch, das hat mich sehr angefasst.
4 Stunden 37 Minuten, weit jenseits von Rührseligkeit und Kitsch, erzählt Brigitte Giraud von Gemeinsamkeiten und Differenzen und der einen Frage, was wir tun, wenn wir den Menschen verlieren um den wir uns drehen. Um den sich unser Leben dreht. Der unser Fluchtpunkt war. Sie versucht sich an einer Rekonstruktion des damaligen Unfallgeschehens, zeichnet ihren gemeinsamen Lebensweg nach um zu verstehen, zu begreifen, warum der Schmerz über den Verlust ihres Mannes so an ihr festhält.
Warum waren sie und Claude eigentlich Hausbesitzer geworden? War die um sich greifende Gentrifizierung der Grund gewesen, der ihren persönlichen Wunsch befeuert hatte? Sie, nicht Claude, war besessen gewesen von der Idee Eigentümer zu sein und dann von diesem Haus. Mit Garage. War es nicht genau diese Garage, die das Unheil heraufbeschworen hat?
Sie denkt an Renovierungsarbeiten mit der Musik von Nirwarna. An das Gefühl endlich angekommen zu sein, ein Hauch von Glück weht durch ein altes halbverfallenes Haus. Durch einen Garten mit hohen Bäumen. Sie denkt an die Geschichte die es umgibt, die Geschichten, die es kennt, von Waffen, Krieg und Widerstandskämpfern und an diesen einen Moment, den Schlüsselmoment, der die Suche nach einem Unterstellplatz für ein Motorrad beendet hat und ein Leben.
Übermotorisiert war es gewesen, von Honda gebaut, in Japan verboten, aber in Frankreich erlaubt. Später dann doch vom Markt genommen. Eine Sportmaschine, nicht für den Straßenverkehr gedacht, hatte ihren Mann an der Ampel aus dem Gleichgewicht, auf die Hinterräder und zu Fall gebracht. Mit Todesfolge.
Wie kann das sein. Denkt sich hier nicht nur Brigitte Giraud, auf der Suche nach Antworten, nach dem was wir Schicksal nennen und den Schuldigen. Auf der Suche nach Antworten, die sich nicht finden lassen. Das macht sie beinahe plaudernd, was sie einen ungeheuren Abstand und viel Kraft gekostet haben muss. Wir können so ihre Reflektion besser aushalten und ich bin froh, dass Sie so erzählt wie sie das tut. Es zeigt, das sie auf diesem Weg Trost gefunden haben muss und den Mut weiterzumachen.
Sie verhandelt viel in ihrem Text, ihre Rolle als berufstätige Mutter, die Rolle ihres Ehemannes als Vater, ihrer beider Rolle als Eltern. Ihren Umgang miteinander als Paar. Freundschaften, das Verhältnis zu ihrem Bruder, dessen Motarrad es war, auf dem ihr Mann tödlich verunfallt ist. Und immer wieder steht da ein Was wäre gewesen wenn im Raum. Wie ein stummer Vorwurf. Wie eine Anklage.
Erinnerungsbilder die quälen, Erinnerungen die leuchten, die auf ein Glück hinweisen, dass man teilen durfte. Von Lyon nach Paris. Ein Abend mit einer Freundin. Ein Anruf den man nicht macht, ein Vorwurf der bleibt.
Der letzte Sommer eines Jahrtausends ist auch der erste Sommer ohne dich, Claude.
Brigitte ist jetzt allein mit allen Entscheidungen. Sie sagen, die Sonne wird sich verfinstern, in diesem Sommer. Es gibt Brillen, die verhindern sollen, dass man sich die Netzhaut verbrennt. Die Zeit vergeht in einem fort. Kümmert sich nicht um den der fehlt.
Brigitte ist sechsunddreißig als sie ihren Mann verliert, zwanzig Jahre später, jetzt in meinem Alter, muss sie das Haus räumen, in das sie alle ihre Hoffnungen auf ein gemeinsames Leben hineingelegt hatte.
<Die Erinnerung ist ein Fenster durch das ich Dich sehen kann wann immer ich will.>
Die Angst diese Möglichkeit zu verlieren wird sei je vergehen? Wird Ihr seine Stimme im Ohr bleiben? Ich bin traurig mit ihr. Schaue auf die Dinge, die Gegenstände eines Lebens die zurückbleiben. Bewundere ihre Zuversicht. Sage Danke. Für das Teilen dieser Gedanken!
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