Schneetage (Jan Christophersen)

Mit viel Glück bin ich gestern unbeschadet nach Hause gekommen. Heute früh kam es mir so vor, als hätte ich es geträumt, rund 2,5 Stunden durch einen wirbelnden Strom von Schneeflocken geschlittert zu sein. Mit meinem Auto. Alleine am Steuer. Im Dunkeln. Die Fahrbahn und ihr Verlauf waren über weite Strecken nicht mehr erkennbar. Jedes Bremsmanöver konnte ins Abseits führen. Froh war ich, wenn mir eine Leitplanke zu erkennen gab – bis hierhin und nicht weiter.

Jan Christophersen, geboren 1974 in Flensburg, verheiratet mit der Schriftstellerin Mareike Krügel (Sieh mich an), studierte Germanistik, Philosophie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und veröffentlichte seinen Debütroman Schneetage 2009 im Mare Verlag, die Hörbuchfassung 2014 bei Saga Egmont, liest Sebastian Dunkelberg in etwas mehr als 11 Stunden vor. Ich bin erst jetzt über diesen mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichneten Roman gestolpert, der vor dem Hintergrund der Schneekatastrophe des Winters 1978/79 in dem fiktiven deutsch-dänischen Grenzort Vidtoft spielt.

Nicht nur auf das Wetter, sondern auch auf einige der Bewohner von Vidtoft, allen voran auf Paul Tamm und die Chefin, mit Nils und Jannis, die das Wirtshaus “Der Grenzkrug” betreiben, wirft Christophersen in seinem Roman einen sehr genauen Blick. Wiederkehrend begleitete ich Paul und Jannis ins Watt, die Haare starr vom Salz. Atmosphärisch dicht und bildhaft erfahre ich von angebrochenen Tischbeinen, wackeligen Stühlen, Smörrebröd und einer steife Brise. Von einem Engländer, einem Soldaten, dessen Flugzeug abgestürzt ist in der Nähe von Vidtoft. 

Mit ruhiger Hand ist sie erzählt diese Geschichte, die nach einer Heimkehr aus Kriegsgefangenschaft beginnt, die bruchstückhaft erinnert und vieles vergessen hat. Verdrängt. Zum Schutz. Vielleicht.

Eine Geschichte die von Leerstellen erzählt, von einer Suche, die ein Ergebnis liefert, dass ich so nicht erwartet habe.

Paul bringt ihn mit, hat ihn im Krieg aufgesammelt, diesen Jungen, der nicht weiß woher er kommt, er schickt ihn vor und die Chefin des Grenzkrugs, die seine Frau ist, nimmt ihn auf. Inmitten einer verschrobenen Gemeinschaft, zwischen den Alten, dem traurigen Herrn Urbschat mit seinen Zwillingen landet er. Ohne zu fragen. Wie einen zweiten Sohn behandeln sie ihn. Vielleicht sogar tritt seinetwegen ihr Sohn in den Schatten?

Flüchtende suchen in Vidtoft wie dieser Junge nach einem Platz im Leben. Nur wenig von ihrer Habe ziehen sie auf Bollerwagen hinter sich her. Geschichten haben sie im Gepäck. Viele ähneln sich, am Abend beim Tee am Ofen, in der Stube, packen Sie sie aus. So vergeht die Zeit.

Dann ein 80. Geburtstag. Eine Feier im Grenzkrug. Viele Jahre sind vergangen. Es ist kurz vor Sylvester 1978. Es hat Schnee ohne Ende, der Pflug fährt sich fest und der Paul fällt um. Das Herz. Not-OP und dann sind Strom und Telefon weg und bleiben weg. Er bleibt allein.

Abgeschnitten und in Sorge verbleiben die, die ihn lieben, immer geliebt haben, aber vielleicht nie wirklich gekannt. Die Natur übernimmt die Regie in diesem Drama. Ein Sturm wütet ums Haus, treibt milchiges Weiß vor sich her, das die Fenster in den Rahmen knacken lässt.

Im Watt versunkene Orte. Ein Fundstück von Interesse? Rungholt sagen sie, wurde vor vielen hundert Jahren vom Watt verschluckt. Nach einer Sturmflut. Die sie als die Rache des Herrn ausgelegt haben. Einen Geistlichen verkloppt man eben nicht. Sogar Gedichte kann man darüber finden, aus einem, dem von Detlev von Liliencron will ich an dieser Stelle eine Passage zitieren, weil sie, wie ich finde so gut passt:

Trutz, Blanke Hans

Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
Wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,
Aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans!

Von der Nordsee, der Mordsee,
vom Festland geschieden,
Liegen die friesischen Inseln im Frieden.
Und Zeugen weltenvernichtender Wut,
Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,
Der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.
Trutz, Blanke Hans!

Der Paul Tamm in Christophersens Geschichte würde nur allzugerne dieses Rungholt finden und als Jannis bei einer ihrer Touren eine metallene Scherbe im Watt entdeckt, ist er überzeugt: Das muss ein Bestandteil von Rungholts Kirchenglocke sein …

Grenzstreitigkeiten und wirtschaftliche Not bestimmen in einem ersten Erzählstrang den Alltag Paul Tamms und seiner Frau. Letztere versucht das Erbe ihrer Eltern, den Grenzkrug über Wasser zu halten. Während die Gäste ausbleiben, Reparaturen alle Reserven aufzehren, sucht ihr Mann wie besessen nach einer versunkenen Stadt.

Sommerferien, Halligflieder, Watt und Einsamkeit. Tonscherben im Schlick öffnen ein Fenster in die Vergangenheit.

<Warum finden wenn man auch suchen kann>, sagt Paul.

Wasser in der Farbe von Blei und reetgedeckte Dächer. Spiegelungen unwirklich wie eine Fata Morgana in der Wüste. Ein Vater und ein Junge, der gerne sein Sohn wäre, ziehen los.

Als erwachsener Ich-Erzähler berichtet uns Pauls Ziehsohn was geschehen ist. Von Pauls Leidenschaft die Überreste Rungholts im Watt zu finden, die zur fixen Idee ausgewachsen dafür gesorgt hatte, dass er sich von seiner Frau entfremdete, sich seiner Gegenwart entzog, Krankheitssymptome über Jahre ignorierte, bis es schließlich geknallt hatte, in diesem Winter 78/79. Mitten in einem Jahrhundert Schneesturm.

Man bleibt beieinander, auch wenn unklar ist was einen noch verbindet. Nachdem ein Schlag ins Gesicht und eine blutende Nase ausdrücken wofür man keine Worte mehr findet.

Dieser Roman fließt wie ein sanfter breiter Fluss, der an seiner Mündung auf ein bewölktes Meer trifft. Das spiegelglatt daliegt, sich dann vom Wind aufwühlen lässt. Familiendramen nehmen eben immer ihren Lauf, nichts hält sie auf, aber so manches befeuert sie. Schneeverhangen sind die Bilder die Christophersen davon zeichnet, aber auch wenn sich Eiskristalle an ihren Rändern bilden, sorgt ein auffrischender Wind vom Meer stets dafür, dass es wieder aufklart und seine Figuren den Durchblick wieder erlangen. Auch dann, wenn es schmerzt.

Dieses Verbohrte, das eisige Schweigen, das Kauzige, hat mir an seinem Personal besonders gefallen. Die Wanderungen durch das Watt, die Teepausen auf der Hallig, das detektivische Tasten nach Vergangenem, der trockene Humor der unter seinen Sätzen liegt, haben mich an Mathijs Deen oder auch an Dörte Hansen erinnert und mich diese Geschichte sehr mögen lassen. Eine Geschichte von vielen, die von dem jährlichen Strom an Neuerscheinungen verschüttet worden ist, zugedeckt wie von einer Schneeverwehung. Ich bin froh sie entdeckt zu haben und wieder einmal nehme ich mir vor, mehr nach solchen Schätzen zu stöbern und nicht nur nach denen zu greifen, die auf den Büchertischen immer ganz vorne liegen. Nach den Druckfrischen. 

Wo Umarmungen fehlen gehen Söhne verloren. Finden Brüder einander die keine sind. Schließt sich ein Kreis.

Wie eine Zeiten-Springerin hüpfte ich mit Jannis von der Gegenwart in sein Erinnern, musste aufpassen, dass ich den Faden nicht verlor. Griff ihn wieder auf und verstand. Am Ende, den Zusammenhang und ihn.

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