Vor über dreißig Jahren wurde in Argentinien von einer Gruppe Studierender, unter der Leitung eines US-Forensikers, die forensische Anthropologie neu erfunden. Mit ihrer Methoden sollte das Auffinden Verschleppter und Ermordeter vorangetrieben werden. Das Equipo Argentino de Antropología Forense (EAAF) ist heute in nahezu 50 Ländern im Einsatz, entnehme ich einem Artikel. Auch das man heutzutage in der Hauptsache gezielt nach knöchernen Überresten Verschwundener aus kriminell motivierten Gewaltdelikten sucht, wo man seinerzeit noch Massengräber öffnete um anhand der Knochen den Menschen, die man so begraben hatte wieder Gesicht und Namen zu geben. Verbrechen sichtbar zu machen, Verschwundene der Anonymität zu entreißen, sie Angehörigen zurückzugeben, damit diese abschließen können, daran denke ich, als ich in diesen preisausgezeichneten Kriminalroman starte:
Die Knochenleser von Jacob Ross
Zur richtigen Zeit am falschen Ort. Ein Junge ist tot. Ein Schuljunge noch. Eine Gruppe halbstarker Krawallmacher hatte ihn zuvor umlagert. Jetzt liegt er in einer Blutlache am Boden, mitten auf dem Marktplatz, seine Hände, einen Arm noch schützend am Kopf.
Die Verhaftung die folgt trifft ihn, Michael Digson, genannt <Digger> der seine ganz eigene Geschichte hat und dem der zuständige DS gerade ein Angebot macht, das nicht nur ihn verblüfft. Er will Digger anwerben, arbeitet mit einer Truppe, die gegen Korruption und wider politische Einflussnahme agiert und schon bald verstehe ich warum seine Wahl auf Digson fällt …
Jacob Ross, geboren 1956 auf Grenada, verortet auch die Helden dieses Romans auf den Kleinen Antillen, ersinnt dafür aber eine fiktive Insel namens Camoha. Seit 1984 lebt Ross im Vereinten Königreich, ist »Fellow of the Royal Society of Literature«., und erschrieb sich mit seinen Knochenlesern den Platz 2 des Deutschen Krimipreises 2022, Kategorie International. Die deutschsprachige Ausgabe erschien im Suhrkamp Verlag, der in 2022 gleich drei der sechs Krimipreisträger stellt, darunter auch den Platz 1 in der Kategorie National, Johannes Groschupf. (Den schau ich mir auch noch näher an!).
In einer sehr wortgewandten Übertragung aus dem karibischen Englisch von Karin Diemerling dürfen wir Ross erleben, der die Authentizität seiner Figuren dadurch unterstreicht ihnen unterschiedliche Dialekte mitzugeben. Keine leichte Aufgabe für Diemerling, die diese Hürde aber souverän nimmt. Ein Audiobook, ungeküzt eingelesen von Hans Henrik Wöhler, ist ebenfalls erhältlich. Auch er versteht es perfekt die Unterschiedlichkeit der Figuren, ihre Herkunft mittels unterschiedlicher Sprechweise zu betonen. So treten alle förmlich zwischen den Silben heraus, agieren wie auf einer Leinwand in meinem Kopfkino.
Gewalt gegen Frauen, gegen Mädchen, sexueller Missbrauch, das im Dunstkreis einer Kirchengemeinde, denen sie als als schutzbefohlen gelten sollten, werden zum zentralen Thema dieses ausgezeichneten Kriminalromans, der sich im Kern um das Verschwinden eines jungen Mannes und die Suche nach ihm dreht.
Nach Wie die einarmige Schwester das Haus fegt von Cherie Jones, die Platz 3 des Dt. Krimipreises 2022 in der gleichen Kategorie belegt, ist es mein zweiter Kriminalroman in kurzer Folge, der mich an einen exotischem Schauplatz mitnimmt und der mit Fug und Recht von sich behaupten darf, mehr als ein Krimi zu sein. Auch wenn Jacob Ross einen fiktiven Ort als Hintergrund wählt und eine besondere Form der Forensik das Ermitteln mehr in den Vordergrund rückt als das bei Jones der Fall war, fehlt es bei beiden nicht an Sozialkritischem. Jones und Ross thematisieren auf erschütternde Art und Weise, wie selbstverständlich es offenbar in diesem Kosmos ist nicht nur die Hand gegen Frauen zu erheben. Krimi hin oder her, diese Zwischentöne überhört man nicht, auch dann nicht wenn sie hinter der Spannung mal einen Schritt zurücktreten. Pures Dynamit wird hier verpackt und die Lunte brennt schon, da hat man erst mit dem Lesen angefangen!
Ross schickt zudem ein Ermittlergespann ins Rennen, im Grunde wird es erst im Verlauf des Romans zu einem Team, das ich sofort ins Herz geschlossen habe. Der integere Michael Digson und die blitzgescheite Miss Stanislaus, die uns hinter die Stirn schauen kann. Ihr Mentor, der alternde Detective Superintendent Chilman, castet offenbar gerne von der Straße frisches Personal, das quer denkt. Er träumt von einer Eingreiftruppe, die gegen alle Widerstände (auch gegen politische) vorgehen soll. Mit langer Ausbildung wird sich da nicht aufgehalten. Michael kommt ins Team und entscheidet sich für die Forensik, wird einer der Besten “im Knochenlesen”. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Aber es scheint ihm geradezu in die Wiege gelegt. Seine Großmutter hatte einst über Muschelschalen und Knochenresten brütend in der Zukunft lesen. Auch seine wollte sie dort gesehen haben. Jetzt las er in den Knochen, versuchte ihnen das zu entlocken was man ihnen angetan hatte.
Wie sein DS Chilmann hält sich auch der Autor nicht lange mit der Einführung seiner Figuren und mit ihrer Entwicklung auf, er wirft sie sofort ins Geschehen, setzt sie in Beziehung und los geht die wilde Fahrt. Durch leicht episodenhaftes Erzählen gestattet er ihnen ein paar Ausflüge, hält sie ansonsten aber eng an der Handlung und beobachtet nicht nur sie sehr genau. Ihm entgeht nichts. Uns gegenüber hält er mit den Motiven noch hinter dem Berg. Was Michael sucht, im Nebenjob den Mörder seiner Mutter, was sich wie der rote Faden in seinem Leben anfühlt ist klar, aber sein DS tastet ebenfalls nach etwas und ich bin gespannt wie sich das wohl verbindet.
Vor vielen Jahren wurde eine Demonstration gewaltsam niedergeschlagen, neun Menschen von der Polizei erschossen. Nur sechs Leichen werden gefunden. Drei fehlen, eine davon ist Michaels Mutter, das war am Montag, den 3. Mai1999. Endlich hat er ihn gefunden, den Mann, der damals das Kommando hatte und er kriegt nichts raus aus ihm. Alzheimer. So die Diagnose. Wieder eine Sackgasse.
In der Zwischenzeit habe ich schlicht Freude an diesem Personal, bin unterwegs in Nachtclubs, unterwegs auf dieser Insel, dorthin wo es schön ist, malerisch und dorthin, wo man ihre Leichen vergräbt. Immer hat man die tropische Schönheit dieses Islands mit vor Augen, dafür sorgt Jakob Ross mit seiner bildhaften, szenischen Art zu schreiben. Aber auch an ihren Abgründen lässt er uns anhalten und in der Tiefe erkennen wir Männerdominanz, Übergriffigkeit und Gewalt.
Es gibt mehr als einen Fall zu lösen, ich begleite die Ermittler Teams bei ihrer Sisyphos-Arbeit, lerne mehr über sie selbst, ihre Schrullen, die Schatten, die ihre Vergangenheit auf das Heute wirft. Die Schlussfolgerungen, die Michael Digson, der frisch gebackene Forensiker im Team zieht, verblüffen mich ein ums andere Mal. Genauso wie sie, die clevere Miss Stanislaus, sie gehört ab sofort zu meinen Lieblingsfiguren. Verschmitzt, mutig, geheimnisvoll und wehrhaft, verweist sie auch schon mal ihren Chef auf seinen Platz. Sie mischt das Team auf und diesen Krimi. Behauptet sich in einer Männerwelt, die mich die Fäuste ballen lässt.
Besser ist, Frau hat ein Messer in der Tasche um sich zu wehren. Oder einen Revolver. Undercover ist nichts für Feiglinge. Miss Stanislaus rettet mit knapper Mühe und Not ihr Leben und lädt Schuld auf sich.
Verleumdet. Vogelfrei. Freund wird zu Feind. Ich suche nach dem Motiv während Michael Digson zu überleben versucht.
Fischbratereien, hier gibt es Brotfrucht Pommes, Schmuggler, kleine Inseln aneinandergereiht, die bis zu den Everglades nach Florida reichen. Eine Welt, in der das Wasser und der Seewind herrschen und ich bin schockverliebt in diese Szenerie.
Davon gekommen. Aus Mangel an Beweisen. Aber nur auf den ersten Blick. Da lassen zwei einfach nicht locker. Großes Krimikino, bitte gerne mehr davon. Auf bald hoffentlich, Michael und Miss Stanislaus!
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